Auf den Spuren der Autorin von „Frankenstein“: „Mary“ von Anne Eekhout

Titel: Mary

Autorin: Anne Eekhout

aus dem Niederländischen von: Hanni Ehlers

Format: Hardcover

Verlag: btb

erschienen: 21.09.2022

Länge: 416 Seiten

Inhaltsangabe:

In einem düsteren, von Vulkanasche verhangenen Sommer im Jahr 1816 besucht die 19-jährige Mary Shelley mit ihrem Partner Percy Shelley und ihrem gemeinsamen kleinen Sohn den berühmten Dichter Lord Byron am Genfer See. Mit dabei sind außerdem Mary’s Stiefschwester Claire und der Arzt und Schriftsteller John Polidori. Zum Zeitvertreib starten sie einen Wettstreit: Wer schreibt die beste Schauergeschichte? Während es unter den Anwesenden zu Spannungen kommt, erwachen in Mary Erinnerungen an einen Sommer in Schottland vor vier Jahren, an ihre Freundin Isabella und dem geheimnisvollen Mr. Booth.

Zum Buch:

Die Niederländerin Anne Eekhout greift in ihrem Roman die tatsächliche Entstehungsgeschichte eines der berühmtesten Schauerromane der Weltliteratur auf und füllt auf fiktionale Art Lücken – in den Wochen am Genfer See, aber vor allem in einem Schottlandaufenthalt der 14-jährigen Mary ein paar Jahre zuvor, als sie aus gesundheitlichen Gründen zu einer befreundeten Familie geschickt wurde und eine enge Freundschaft mit der etwas älteren Isabella einging.

Die Erzählung wechselt zwischen beiden Zeitebenen hin und her. Um Mary Shelley’s Meisterwerk „Frankenstein“ selbst geht es dabei wenig; der Entwurf für dieses Meisterwerk nimmt erst zum Ende hin erste Formen an. Im Zentrum stehen dagegen Mary’s Gemüt und ihre Erinnerungen an Erlebnisse, die ihr Talent für Schauergeschichten mit geprägt haben könnten. Könnten, denn Eekhout sagt ganz klar, dass die Ereignisse in Schottland ein „weißer Fleck“ in der Biografie der Schriftstellerin sind und von ihr rein fiktional ausgemalt. Es könnte so gewesen sein. Oder aber ganz anders.

Den Tatsachen entspricht, dass die junge Mary 1816 noch mit dem Verlust ihrer zu früh geborenen Tochter zu kämpfen hatte. Es sind denn auch diese Gefühle von Trauer, Verlustangst und der Bedrohlichkeit des Todes, die Eekhout genauer erforscht. Wir erleben Mary als von finsteren Episoden geplagte junge Mutter, die über die Zerbrechlichkeit ihres kleinen Sohnes mit Adleraugen wacht – eine junge Frau hin- und hergerissen zwischen tiefer Liebe, morbiden Ängsten und der inneren Stärke einer Mutter.

Und wir erleben sie als erwachende Schriftstellerin, die aus dem Schatten ihres Mannes beginnt hervorzutreten. Die Eifersüchteleien der von Wein und Laudanum berauschten Männer, sowie Claire’s Affäre mit Byron sind der wankelmütige und teils destruktive Hintergrund für eine Frau, die in diesem verwirrenden Chaos ein Stück weit zu sich selbst findet.

Ebenso viel Gewicht liegt auf ihrem „schottischen Sommer“, und diese Erinnerungen lesen sich wie eine sapphic gothic story. Zur Auskurierung einer Hauterkrankung zu Freunden ihrer Eltern aufs Land geschickt, erlebt Mary eine intensive, intime Freundschaft zu einer der Töchter des Hauses – der volatilen Isabella. Zu den spannenden, verbotenen Gefühlen gesellt sich die ominöse Gestalt des Mr. Booth, der wesentlich ältere Ehemann von Isabella’s Schwester. Zwischen Faszination und Angst hin- und hergerissen, entspinnt sich eine unheimliche Geschichte, die von Andeutungen und Vermutungen genährt wird, anstatt dass Beweisbares passiert. Gibt es da ein Monster? Oder doch nicht?

Grundsätzlich ist es diese mysteriöse, aber nie greifbare Stimmung, die den gesamten Roman prägt. Man fühlt sich unwohl, bedroht, unterschwellig immer mit leichtem Schaudern beschäftigt. Wirklichkeit und Einbildung verschwimmen unter dem Einfluss von Rauschmitteln, intensiven Gefühlen und jugendlicher Fantasie. Oft weiß man als Leser*in nicht, was echt ist und was eine Vision, eine dramatisierte Erinnerung oder ein Hirngespinst. Mitten im Satz passiert manchmal der Übergang von Realität zu Halluzination, und das ist sowohl eine atmosphärische Stärke des Romans als auch ein Quell der Verwirrung. Gewollt? Mit Sicherheit. Wie klassische Schauerromane, entspringen die Geister vor allem übersteigerter Fantasie, als dass wirkliche Monster auftauchen. Man ist sich nur nie ganz sicher.

Von der Stimmung her ist „Mary“ gelungen. Sprachlich finster, kreativ und von morbider Poesie, muss man unbedingt der Übersetzerin Hanni Ehlers auch ein großes Kompliment machen: Diese Metaphern und Kombinationen ins Deutsche zu übertragen, kann nicht so leicht gewesen sein. Eekhout malt mit Sprache, und zwar in unheilvollen, unerwarteten Farben. Es grenzt in den halluzinatorischen Abschnitten an verzerrte Kunst.

Vom Plot her kommt es auf die Erwartungen der Lesenden an. Tiefere Einblicke in „Frankenstein“ sollte man nicht erwarten, und auch keinen stringenten Plot oder einen runden Schluss. Es geht um das „Wie“ in diesem Roman, um die Schaueratmosphäre, und um Mary’s Innenleben. Wir erleben einen kleinen Teil ihrer schriftstellerischen Emanzipation und – in den Rückblenden – ihres Heranwachsens. So, stellt Anne Eekhout sich vor, wurde Mary zu der erwachsenen Frau und Autorin, die wir heute bewundern.

Und da ist vielleicht auch die größte Krux des Romans: Es ist reine Spekulation von Eekhout, dass Mary durch die – fiktionalen – Ereignisse so geprägt wurde, dass ihrem Kopf schließlich „Frankenstein“ entsprang. Es ist Eekhouts Interpretation, welchen Einfluss Mary’s Trauer um ihre Tochter auf ihr Gemüt und ihr Werk hatte. Wir lernen hier eine Frau kennen, die vielleicht so war – oder aber komplett anders. Und die Vermischung von Tatsachen und Fiktion macht es schwierig, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Fazit:

Wenn man „Mary“ als biografisch angehaucht aber letztlich rein fiktiv versteht, bleibt unterm Strich ein stimmungsvoller und sprachlich eindrucksvoller Schauerroman über die Entstehung eines Schauerromans, verknüpft mit einer Coming-of-Age-Geschichte. Doch als Autorinnenporträt darf man das Buch nicht sehen. Und das ist letztendlich das, wonach man sich beim Lesen sehnt: Zu wissen, wer Mary Shelley wirklich war. Hier erfahren wir es nicht. Oder zumindest nur eine von unzähligen möglichen Interpretationen dieser Schriftstellerin, die uns jedoch genauso entgleitet wie der Wahrheitsgehalt Mary’s fiktiver Erinnerungen. Was war echt, und was hat Eekhout, was haben wir uns nur eingebildet? Darauf gibt es – vermutlich mit Absicht – keine Antwort.

Bewertung:

Bewertung: 4 von 5.

Danke an den btb-Verlag für das Rezensionsexemplar!

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