
Der Herbst ist ein wunderbare Zeit, um atmosphärische Hörspiele zu hören. Wenn es draußen stiller und weniger tumultig wird, ist es umso schöner, mit dem Kopf ins Abenteuerland reisen zu können. Tee, eine Decke, ein Kaminfeuer; oder ein Spaziergang durchs letzte goldene Herbstlicht – und dabei ein Hörspiel auf den Ohren. Das ist ein Genuss!
Dafür muss man nicht unbedingt zu einer kostenpflichtigen Abo-Plattform greifen. Auch die öffentlich-rechtlichen Sender haben die Produktion hochkarätiger Hörspiele drauf, und zwar schon lange. Es ist nur etwas schwieriger, sie dort zu entdecken, da sie weniger beworben werden und deshalb (leider) im großen Angebot der Streaming-Dienste eher untergehen.
Im Oktober/November bietet sich etwas mit Gruselfaktor an, und da habe ich einen echten Schatz für euch entdeckt:
GREUL

Titel: GREUL
Autoren: Stuart Kummer und Edgar Linscheid
Format: Hörspiel-Stream (ARD Audiothek)
Sprecher*innen: Axel Prahl, Matthias Koeberlin, Rainer Bock, Lena Klenke, Julia Koschitz u.v.m
Musik: Lars Gelhausen und Stuart Kummer
Regie: Stuart Kummer
Produziert von: WDR, 2022
Länge: 8 x ca. 55 Minuten
Das mittelalterliche Mystery-Hörspiel mit leichtem Fantasy-Touch vereint historisches Feeling mit leichtem Grusel und einem Whodunit-Krimi. Geschrieben von Stuart Kummer und Edgar Linscheid, und besetzt mit so bekannten Stimmen wie Axel Prahl, Matthias Koeberlin, Bjarne Mädel und Joachim Król, werden wir zurück transportiert in ein kleines Dorf im Zirnertal im Mittelalter. Als die 16-jährige Tochter des Schmieds verschwindet, kochen alte Gerüchte um ein Monster wieder hoch, das das friedliche Dörfchen Quill einst mordend heimsuchte: Ist der GREULverantwortlich für die Tat? Auch im benachbarten Kloster werden die Mönche von den Vorgängen aufgeschreckt.
Obwohl als „Horror-Hörspiel“ angepriesen, ist dieses Label nicht ganz passend. Ja, es gibt einige heftige und blutige Momente, bei denen sich aufgrund der knackigen Soundeffekte auch die Nackenhaare hochstellen. Die sind allerdings nur punktuell gesetzt in der Geschichte, und ich würde „GREUL“ eher als mittelalterlichen Krimi bezeichnen – ein Vergleich mit „Der Name der Rose“ drängt sich auf, auch wenn das zu hoch gegriffen wäre. „GREUL“ ist getränkt von unheilvoller Atmosphäre und einer düsteren Stimmung, hat – bis auf die eindrucksvoll eskalierenden letzten zwei Folgen – aber einen eher geringen Action-Anteil. Es gibt viele Dialoge. Viele Konflikte zwischen den Dorfbewohnern, viel Gemunkel bei den Mönchen hinter den Klostermauern. (Die katholische Kirche wird ihrem Ruf als zwielichtige Institution mal wieder sehr gerecht.) Machtgerangel ist ein wichtiger Faktor. Wer für die vielschichtigen Geflechte innerhalb von Gemeinschaften ein Faible hat, kommt hier auf seine/ihre Kosten.
Schön gemacht ist der ständige, nagende Zweifel an der Natur der Gräueltaten. Ist es wirklich ein Monster? Oder benutzt ein Mörder den Aberglauben der Dorfbewohner, um sich dahinter zu verstecken? Ein Motive hätten mehrere Männer im Dorf und hinter den Klostermauern. Das Miträtseln macht Spaß. Die Angelegenheit ist komplexer, als es zunächst scheint und erstreckt sich über das Dorf hinaus. Fantasy oder Krimi? Das bleibt eine prickelnde Frage.
Die Qualität des Hörspiels, von den Sprecher*innen über das Sounddesign bis hin zur schön ominösen Titelmusik, ist vom Feinsten. Gerade in den letzten Folgen, wo dann auch Waffen gezückt werden und es bis aufs Blut geht, zeigen die Geräuschemacher*innen, was sie drauf haben. Da schraubt sich das Ganze zu unerwarteter Intensität hoch. Am besten hört man das wegen des 3D-Effekts über Kopfhörer.
Es gibt also kaum etwas zu kritisieren. Wie gesagt: das „Horror“-Label ist nicht ganz passend und schreckt eventuell Fans historischer Krimis ab. Das Ensemble ist sehr groß und enthält viele männliche Figuren und Stimmen. Die kann man nicht immer gut auseinanderhalten oder sich merken, wer jetzt wer ist. Mir hat da die zugehörige Website mit der Figuren-/Sprecher*innenliste immer wieder geholfen. Und, wie gesagt, es gibt mehr Dialoge als Action. Die nimmt erst zum Schluss hin zu.
Das sind aber alles nur Kritikpunkte auf hohem Niveau. Insgesamt ist „GREUL“ beste düstere Hörspiel-Unterhaltung, klasse gemacht und komplexer als erwartet. Das Beste: Die Tür steht anscheinend offen für eine mögliche zweite Staffel. (Was dann auch ein kleiner Hinweis darauf ist, keinen wirklich runden Schluss zu erwarten, obwohl der Schluss schon – auf gewisse Art – das Wichtigste klar macht.)
Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn es mehr „GREUL“ zu erwarten gäbe!
Bewertung:
Anne Bonny – Die Piratin

Titel: Anne Bonny – Die Piratin
Autorin: Anne-M. Keßel
Sprecher*innen: Lou Strenger, Felix Goeser, Karen Dahmen u.v.m.
Musik: Henrik Albrecht
Regie: Martin Zylka
produziert von: WDR, 2022
Länge: 8 x ca. 35 Min.
Was habe ich mich gefreut, in diesem gleichzeitig historischen wie auch modern queeren Hörspiel eine der Heldinnen aus den Hörspiel-Zeiten meiner Kinder wieder zu treffen: Für die hatte ich mal eine CD namens „Piraten“ gekauft, mit Liedern und Geschichten über die Zeit der Freibeuter (immer noch sehr zu empfehlen; gibt’s auch bei einigen Streamingdiensten), und darauf war ein Lied über zwei damals berüchtigte Piratinnen: Anne Bonny und Mary Read.
Erstere ist die Protagonistin dieses Hörspiels. Im späten 17. Jahrhundert in Irland geboren und dann mit ihren Eltern nach Amerika ausgewandert, entfloh die junge Anne einem vorgezeichneten Leben als brave Ehefrau, verkleidete sich als Mann und heuerte auf einem Piratenschiff an – dessen berüchtigte Kapitänin sie später wurde. Und zwar nicht allein: Ihre Partnerin wurde Mary Read, ebenfalls als Mann verkleidet auf deinem Schiff unterwegs. Die beiden verband mehr als die gemeinsame Liebe zur Seefahrt: Sie lebten in einer Liebesbeziehung zusammen. Ihr Raubgebiet war die Karibik. Zusammen machten sie die Meere unsicher, bis sie von englischen Piratenjägern gefangen und verhaftet wurden. Es drohte ihnen der Tod am Galgen.
Wie die Geschichte ausging? Man weiß noch mehr darüber, aber das wären fette Spoiler für das Hörspiel, und das will ich euch nicht verderben.
Obwohl der Stoff historisch belegt ist und das Hörspiel die damalige Zeit widerspiegelt, fühlt es sich gleichzeitig modern an. Die Sprache der Figuren ist nicht so altmodisch, wie man erwartet. Das mag man kritisieren, aber es macht das Hörspiel sehr flott und hörbar. Anne Bonny selbst wirkt auch sehr modern, in ihren Ansichten, ihrem Feminismus und natürlich in ihrer offen gelebten Bisexualität – etwas, das damals nur als Gesetzlose möglich war.
Extrem lobenswert zu erwähnen ist, wie Hörspielautorin Anne-M. Keßel das Thema „Rassismus“ behandelt hat. Es gelingt ihr in einer für Anne Bonny prägenden Kindheitsszene, den Sklavenhandel in Amerika eindrucksvoll darzustellen, ohne dabei auch nur einen einzigen rassistischen Begriff zu reproduzieren. So, genau so, geht das!
Auch dieses Hörspiel ist sehr gut gemacht. Die Eingangsmusik ist catchy, die Sprecher*innen machen einen durchweg sehr guten Job, auch ohne dass super bekannte Namen dabei sind, und die See rauscht, die Taue knarren und Piratensäbel klirren.
Ein rundum tolles Hörspiel über eine historische weibliche Figur, die unbedingt bekannter sein sollte, als sie es bei uns ist. Beste Mischung aus Abenteuer, Geschichtsunterricht und LGBT-Geschichte. Leinen los und anhören!
Bewertung:
Beide Hörspiele findet ihr (kostenlos) in der ARD-Audiothek, auf der WDR-Website sowie auf den verschiedensten Streaming-Plattformen wie z.B. Spotify etc.