Shortlist-Snacks: Die Leseproben zum Deutschen Buchpreis

Sechs Seiten. Die bedeuten in einem Buch – egal welchen Umfangs – ja praktisch nichts. Daran kann man sich kein Urteil über ein ganzes Buch bilden. Was man aber kann: den ersten Eindruck auf sich wirken lassen. Wir kennen das doch alle: Im Buchladen schlagen wir ein Buch auf, lesen die ersten Zeilen, die ersten paar Seiten – und merken sofort, ob wir gerne weiterlesen möchten oder nicht.

Genau das habe ich mit den Shortlist-Nominierten für den Deutschen Buchpreis 2018 gemacht. Sechs Autoren. Sechs Leseproben à sechs Seiten. Die habe ich mir durchgelesen und kann jetzt kein Urteil darüber fällen, wer aus meiner Sicht den Preis abräumen sollte. Welches der Bücher ich mir gerne kaufen und weiterlesen würde, das kann ich aber sehr wohl sagen.

Also:

Nachtleuchten von Maria Cecilia BarbettaDirekt ein Volltreffer: Sprachlich fließt der Text in mich hinein, satt, lebendig und reizvoll. Teresa ist ein starkes kleines Persönchen, der Vater eine bedrohliche Überfigur. Ein neues Baby steht an. In dieser Familie gibt es offenbar Dunkelheit. Wir sind in Argentinien, und aus den Worten Barbettas leuchtet etwas hervor: ein Summen und reichhaltiges Lebendigsein, das mich fühlen lässt: Wir sind hier nicht in Deutschland, sondern woanders. Und das ist spannend und so reizvoll, dass ich am Ende der Leseprobe traurig bin, dass ich nicht gleich weiterlesen kann. Will ich haben!

Sechs Koffer von Maxim BillerWieder nicht Deutschland. Wir sind in Prag, in einer winzigen Wohnung, wo sich der Vater mit einer Schwejk-Übersetzung rumplagt und der Sohn nachbohrt, ob Onkel Dima ein Mörder ist. Da gibt es ein Familiengeheimnis. Der Sohn, die Atmosphäre – eine graue, dunkle Weltsicht ist fühlbar. Jiddische Wortsprengsel deuten auch hier ein Thema an. Vielfach habe ich gelesen, „Sechs Koffer“ sei einer der Favoriten für den Preis. Diese sechs Seiten sind äußerst lesbar, sprachlich aber nicht so leuchtend und reizvoll wie „Nachtleuchten“. Würde ich lesen, wenn er mir jemand schenkt, aber nicht zwingend kaufen.

 Ein weiterer Spitzenkandidat, wie ich in den Buschtrommeln höre. In der Leseprobe steht der Sohn eines Kriegshelden, zerrissen über seine Einstellung zum Vater, selbst vor dem Einzug in den Krieg. Es geht um Russland, um Tschetschenien, schlage ich nach. Zwischen den Zeilen meine ich, Abrechnung und Realität zu verspüren. Es fühlt sich wuchtig an. Das könnte brutal werden? Dieser Text tanzt nicht wie „Nachtleuchten“, sondern er senkt sich mit Gewicht auf mich herab. Ja, das würde ich kaufen und weiterlesen.

Archipel von Inger-Maria Mahlke Die Leseprobe, mit der ich mich am schwersten tue. Zwar ist der desillusioniert herumtappende, trinkende Lorenzo interessant, aber ansonsten kitzeln weder die Erzählerin mit ihrer Komitee-Arbeit noch die Sprache meine Neugier. Nebensätze werden vor Hauptsätze gepackt, Objekte vor Subjekte, Kommata statt Punkte verwendet. Sowas kann kunstvoll wirken. Hier stört es den Lesefluss und erscheint zu gewollt. Das hilft mir nicht, in die Geschichte zu kommen. Da kann das Setting – Teneriffa – auch noch so exotisch-spannend sein, mich ergreift kein Flow. Kann ruhig jemand anderes lesen als ich.

Der Vogelgott von Susanne Röckel Über diese Leseprobe streite ich mit mir selbst. Es ist das merkwürdig märchenhaft scheinende Eintreffen des Erzählers in einem andererseits sehr realistisch beschriebenen Ort, der grau und von Vögeln bevölkert wirkt. Die Sprache ist eine Mischung aus altmodisch und plastisch. Würde nicht von „Antennen“ gesprochen, hielte ich es für etwas von vor ein-, zweihundert Jahren. Sowas wie magischer Realismus? Ein mythologischer Roman? Ein Hauch von düsterem Lovecraft-Unheil umweht mich beim Lesen. Alles sehr merkwürdig. Vielleicht zu merkwürdig, um das weiterlesen zu wollen. Oder vielleicht deswegen erst recht weiterlesen? Ich streite immer noch mit mir selbst. Mit Sicherheit der ausgefallenste Shortlister, soviel steht fest.

Gott der Barbaren von Stephan ThomeNoch so ein strittiger Nominierter. Die sechs Seiten versetzen mich auf ein Schiff in China im 19. Jahrhundert, das mit einer englisch-französischen Flotte eine Festung angreift. Ein Hauch von Abenteuerroman steigt mir in die Nase: Exotik, Geschichte, Schlachten. Geschrieben ist das allerdings eher berichtartig und nüchtern. Stephan Thome war bisher sprachlich für mich noch nie ein loderndes Feuer, und auch hier entfacht er mich nicht. Dafür aber das Setting. Was mache ich damit? Von jemandem ausleihen und noch ein bisschen weiter reinlesen vielleicht.

Summa summarum:

Ich bin ja immer eher skeptisch beim Deutschen Buchpreis. Das sind oft solche Feuilleton-Lieblinge, deren Lektüre gefühlt eher Arbeit als Vergnügen ist. Mit Mainstream oder Unterhaltung verbinde ich die nicht. Aber Überraschung: Zumindest die Leseproben sind allesamt sehr zugänglich und „normal“ lesbar. Literarisch ja, anspruchsvoll auch, aber nicht schwierig oder überzogen.

Was auch auffällt: Kein einziger der Shortlist-Romane spielt in Deutschland. Hat das einen Grund? Möchte die Jury sich auch lieber mit anderen Ländern, anderen Zeiten oder fiktiven Orten auseinandersetzen als mit dem dunkelnden Deutschland unserer Gegenwart? Liegt es daran, dass viele Buchpreiskandidaten – so wie diese sechs – ihre Wurzeln oder gefundene Heimat eben nicht in Deutschland haben? Oder ist das einfach Zufall? Keine Ahnung.

Müsste ich einen Favoriten wählen, wäre das „Nachtleuchten“ von Maria Cecilia Barbetta. Spricht mich spontan am meisten an, hätte ich am liebsten weiter gelesen. Auch „Die Katze und der General“ von Nino Haratischwili hat mich mit leichtem Sog erfasst (und das trotz des sehr merkwürdigen und mich irgendwie abturnenden Buchcovers, mal so am Rande erwähnt). Der Sonderling in der Truppe – „Der Vogelgott“ zieht mich an und befremdet mich gleichermaßen. Allein das wäre schon ein Grund, der Sache auf denselbigen zu gehen.

Und jetzt bin ich mal gespannt, ob einer dieser drei am Ende den Deutschen Buchpreis gewinnt. Wie sieht es bei euch aus? Was sind eure Shortlist-Favoriten?

Vielen Dank an das Börsenblatt und netgalley.de für die Leseproben!

 

3 Gedanken zu “Shortlist-Snacks: Die Leseproben zum Deutschen Buchpreis

  1. Mikka Liest 23. September 2018 / 18:17

    Hallo,

    „Sechs Koffer“ und „Der Vogelgott“ haben mich auf unterschiedliche Arten voll überzeugt, ich bin unschlüssig, welchem davon ich eher die Daumen drücken soll.

    Vielleicht dem Vogelgott, weil mich das Buch mal an Kafka, mal an Lovecraft erinnerte (beides Autoren, die ich liebe), auf jeden Fall ist es ein richtiger schwarzromantischer Schauerroman – und das ist kein Genre, das oft für Buchpreise nominiert wird. :-)

    Allerdings liegt auch „Nachtleuchten“ schon auf dem Tisch neben dem Lesesofa, das möchte ich noch vor der Verleihung lesen, und vielleicht wird mich das ja noch viel mehr überzeugen.

    LG,
    Mikka

    • papercuts1 23. September 2018 / 18:57

      Hallo Mikka,
      da bin ich also nicht die Einzige, bei der „Der Vogelgott“ Lovecraft-Assoziationen hervorruft! Ja, Kafka passt auch. Schauerromane sind ja absolut mein Geschmack, und wenn das einer ist, neigt sich die Waage immer mehr zum Lesen dieses Romans.
      Was begeistert dich an „Sechs Koffer“ denn so?

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