Titel: ‚Balsac und die kleine chinesische Schneiderin‘
(Originaltitel:‘ Balsac et la petite tailleuse chinoise‘)
Autor: Dai Sijie
Sprache: Deutsch (Originalsprache: Französisch)
Sprecher: Edgar M. Böhlke
Format: Hörbuch-Download von audible.de für € 9,95 im Flexi-Abo (ohne Abo €24,99)
Anbieter: steinbach sprechende Bücher
veröffentlicht: 2013
Länge: 5 Std 26 min (gekürzt)
Eine kostenlose Hörprobe findet ihr HIER, auf der Produktseite von audible.
Inhaltsangabe (audible):
Dieses Hörbuch erzählt von zwei pfiffigen chinesischen Studenten, die es in ein gottverlassenes Bergdorf verschlagen hat. Ein Koffer voll westlicher Weltliteratur und eine entzückende Schneiderin retten ihnen das Leben…
Zum Hörbuch:
Manchmal führen Umwege zum Ziel. In diesem Fall mich zu diesem Hörbuch. Auf der Suche nach einem asiatischen Kandidaten für die ‚read different‘-Aktion im April stieß ich über die Hörbuch-Bibel auf Dai Sijie und bei audible.de nicht auf den Roman von ihm, den ich gesucht hatte. Sondern auf diesen hier, BALSAC UND DIE KLEINE CHINESISCHE SCHNEIDERIN. Es handelt sich um den schon 2000 erschienenen Erstling des inzwischen in Paris lebenden chinesischen Autors Dai Sijie, und der Roman trägt autobiographische Züge: 1954 geboren, wurde Sijie als junger Mann zu Zwecken der kommunistischen Umerziehung unter Mao für drei Jahre in ein einsames chinesisches Bergdorf verfrachtet.
Gleiches geschieht mit dem (namenlosen) Ich-Erzähler des Romans und dessen Freund Luo. Der eine Sohn eines in politische Ungnade gefallenen Zahnarztes, der andere Kind von Schriftstellern, sollen beide in jenem winzigen Bergdorf auf den ‚rechten Weg‘ gebracht werden – auf den Weg General Maos. Das Leben im Dorf ist hart und karg. Von der Abwesenheit der einfachsten Annehmlichkeiten wie Elektrizität und sanitären Anlagen mal abgesehen, kommt dazu noch die völlig intellektuelle Isolation. Zu Zeiten Maos (so lerne ich) war fast sämtliche Literatur außer Maos berühmtem ‚Roten Buch‘ verboten. Westliche Literatur sowieso. Wer damit erwischt wurde, musste mit Verhören, Folter und Gefängnis rechnen.
Unsere beiden Freunde darben also nach Abwechslung, besonders geistiger und kultureller Art. Ihr Glück ist es, dass sie sich zu begnadeten Geschichtenerzählern entwickeln. Zunächst geht es dabei um Filme, die sie gesehen haben und den staunenden Dorfbewohnern in einer Art Ein-Mann-Performance nacherzählen. Dafür dürfen sie dann ab und an sogar in eine weit entfernte Kleinstadt, wo es alle Jubeljahre eine Kinovorstellung gibt.
Der Zufall will es, dass der Erzähler und Luo zwei Dinge entdecken: Zum einen die kleine chinesische Schneiderin aus einem benachbarten Dorf, und zum anderen eine Kiste mit verbotenen Büchern. Argwöhnisch vom politischen Beobachter des Bergdorfs beäugt, werden die Romane von Balzac, Dumas und Co. nicht nur zu geistigen Überlebensrettern, sondern lehren die zwei auch in der Kunst der Liebe. Zwischen der drohenden Gefahr der Entdeckung, lebensgefährlicher Zwangsarbeit in den Minen und heimlichen Rendevous mit der Schneiderin entwickeln sich die Ereignisse auf dem Berg in ungeahnte Richtungen…
BALSAC UND DIE KLEINE CHINESISCHE SCHNEIDERIN hat zwar einen sehr sperrigen Titel, aber der Roman ist alles andere als sperrig. Tatsächlich ist die Thematik ernst, und teils wird es lebensgefährlich. Aber dennoch schreibt Sijie mit einer fließenden Leichtigkeit, die Edgar M. Böhlke in seiner Lesung aufgreift und verstärkt. Sijie’s Stil ist intelligent, ohne schwer zu sein. Seine Worte wirken zart und gleichzeitig schelmenhaft. Es ist die Sprache eines Überlebenskünstlers, der seine Erfahrungen auf zwei jugendliche Charaktere überträgt, die sich nicht unterkriegen lassen.
Das Hörbuch fliegt geradezu an einem vorbei, und man nimmt im Fluge viel mit: Es geht um Mao’s China und die Realität dieser Zeit in einem ausgewählten Mikrokosmos. Es geht um die Macht der Worte, um Literatur und die Liebe. Es geht um Freiheit, Rebellion und das, was man nicht einsperren kann: den Geist. All das findet aber nicht mit mächtigem Brumborium statt, sondern unter dem Siegel der Verschwiegenheit, im Kleinen.
Dazu kommt eine anmutige, entzückend unmoderne Sprache, die zu Zeit und Ort passt. Hier muss der Übersetzer ganze Arbeit geleistet haben. Das dann noch von einem älteren Sprecher in souverän-keckem Plauderton erzählen zu lassen, ist gekonntes Casting.
Einzig der Schluss wirft ein bisschen Unverständnis auf, zumindest bei mir. Abrupt wirkt das Ende, etwas unausgegoren. Das mag allerdings mit der gekürzten Hörbuchversion zusammenhängen. Grundsätzlich bleibt das Gefühl, dass BALSAC UND DIE KLEINE CHINESISCHE SCHNEIDERIN noch schöner und nahtloser wäre, hätte man nicht gekürzt.
Zum Sprecher:
In meiner Hörbuch-Sammlung schlägt Edgar M. Böhlke etwas aus der Art. Nicht nur durch sein Alter (der deutsche Schauspieler hat die 70 bereits überschritten), sondern vor allem durch seine eher klassische Vortragsart. Böhlke liest eher als dass er schauspielert. Es gibt wenig stimmliche Differenzierung zwischen den einzelnen Charakteren, aber trotzdem keine Verwechselungsgefahr. Mit leichtfüßiger Süffisanz und hie und da gekonntem Ernst liest Böhlke so vor, wie ich das von früher kenne: Im Sommer, an einem Lagerfeuer, wo noch einer eine richtig gute Geschichte hervorholt, und man will am liebsten die ganze Nacht lauschen, um sie zu Ende zu hören.
Fazit:
Ein autobiographischer Roman über zwei junge Männer, die unter Mao in einem Dorf am Ende der Welt von französischer Literatur das Überleben und Lieben lernen. Das ist chinesische Geschichte hautnah, reduziert auf einen kleinen Ort und wenige Menschen. Unter strenger Überwachung werden die beiden Helden von Balsac und seinen Kollegen geistig ernährt, in Gefahr gebracht und erleben eine literarisch entfachte, geheime Sturm- und Drangzeit.
Schön geschrieben, schön vorgetragen, ist dieses Hörbuch trotz eines nicht ganz ausgestalteten Endes nicht nur lehrreich, sondern vor allem wunderbar unterhaltsam. Ein Kleinod, und ich bin sehr froh, es entdeckt zu haben.
Bewertung:
Hörbuch: 9/10
Erzähler: 9/10
Dieses Hörbuch ist Teil der ‚read different‘-Aktion und gleichzeitig mein April/Mai-Beitrag zur ‚Hörbuch-Challenge 2013‘.
freut mich, daß dir das buch auch gefallen hat, ich habe es seinerzeit in der print-version genossen…. dai sijie ist ein ganz wunderbarer erzähler, wie ich meine….
Lieber flattersatz,
‚Erzähler‘ – das trifft es. Ich hätte – so wie der Schneider mit dem ‚Graf von Monte Christo‘ – Dai Sijie die ganze Nacht lang und noch länger lauschen können. Zum Glück hatte die Hörversion ja auch einen begnadeten Vorleser. Viel zu schnell war diese Geschichte vorbei. Ein Grund, bestimmt noch mehr von diesem Autor zu entdecken.
(Ich habe gerade deine Rezension gelesen und finde die Bezeichnung ‚Schelmenroman‘ übrigens wunderbar passend! Man liest/hört den Schalk im Nacken zwischen den Zeilen.)
Danke für’s Reinschauen!