
Titel: Die Überlebenden
Autor: Alex Schulman
übersetzt von: Hanna Granz
Format: Hardcover
Verlag: dtv
erschienen: 20.08.2021
Länge: 304 Seiten
Triggerwarnungen für den Roman: Alkoholismus, emotionaler Missbrauch, Tod eines Familienmitglieds
Drei erwachsene Brüder fahren zurück an das alte Ferienhaus am See, wo sie mit ihren Eltern immer die Sommer verbrachten. Mit dabei haben sie die Asche ihrer Mutter, um sie dort zu verstreuen. Dort holt sie die Vergangenheit ein, und alte Wunden brechen wieder auf.
Als dtv mir auf Anfrage diesen Debüt-Roman des schwedischen Autors Alex Schulman zusandte, kam er in einer Box mit einem kleinen Lesejournal, einer hellen Jutetasche und mit zwei duftenden, mit Kordel zusammen gebundenen Stücken Birkenrinde. Das Ganze sah aus und duftete wie ein heller, skandinavischer Sommer.
Von Helligkeit ist in diesem Buch aber keine Spur. Oder zumindest nur trügerisch, in den Rückblicken in die Vergangenheit, in der zunächst scheinbaren Idylle am See, wo die Eltern in Liegestühlen an Weingläsern nippen, die Brüder schwimmen, in der Hängematte liegen und lesen oder Birkenreiser im Wald sammeln. Doch von Anfang an lauert etwas zwischen den Zeilen: Dunkelheit. Schulman kreiert zügig eine sirrende, unterschwellige Alarmiertheit. Man ahnt, dass hier etwas faul ist.
Und das ist es ganz gewaltig. Nicht nur ganz offensichtlich, weil sich die erwachsenen Brüder aus uns zunächst unbekannten Gründen gewaltig in die Wolle kriegen, bis Blut fließt. Sondern auch, weil uns eine schockierende Szene am See die Augen öffnet für eine Familie, für die das Wort „dysfunktional“ nicht ausreicht. Es kippt von Sommerferien in Entsetzen. Von einem Kinderspiel in bitteren Ernst. Als Folge verbringt man als Leser*in den Rest des Buches damit, ständig auf der Hut zu sein bis zur nächsten verstörenden Szene, immer auf der Suche nach der ursprünglichen Wurzel des Übels.
„Das Gewicht all dessen, was in diesem Moment passiert, ist groß, doch das meiste ist längst geschehen. Was sich hier auf der Steintreppe abspielt, das Weinen der drei Brüder, die geschwollenen Gesichter und all das Blut, ist nur der letzte Ring auf dem Wasser, der äußerste, der am weitesten vom Einschlagpunkt entfernt ist.“
Alex Schulman, „Die Überlebenden“, S.13
Man erlebt, wie die Verantwortungslosigkeit der Eltern zwischen alkoholgetränktem Laissez-Faire, echter Vernachlässigung und Übergriffigkeit hin- und herschwankt. Wie ein schwacher Vater und eine völlig unberechenbare Mutter die drei Jungen ihre eigenen, ungesunden Überlebensstrategien entwickeln lassen: einer, der sich distanziert; einer, der über die Stränge schlägt; und einer, den die Angst packt und nicht mehr loslässt. Man ist schockiert angesichts der Feindseligkeit der Brüder untereinander, wo nur Reste von Zusammenhalt in höchster Not zum Vorschein kommen. Man versucht, Sympathien für diese Figuren zu entwickeln, die einen allesamt immer wieder empören, auf ganz unterschiedliche Weise – selbst mit Benjamin, dessen Blickwinkel wir am ehesten einnehmen, wird man nicht so richtig warm. Schulman macht uns das echt schwer, und das ist wirklich mutig.
Konzentration ist dabei auch noch gefordert, denn die Geschichte wird nicht nur auf zwei Zeitebenen, immer abwechselnd, erzählt, sondern eine davon – in der Gegenwart – läuft auch noch rückwärts ab. Das verlangt Aufmerksamkeit, holpert in den Übergängen manchmal und ist auch immer wieder verwirrend, so dass man zurück blättern muss, verursacht aber auch einen gewaltigen Lesesog. Die Sprache hilft: bildhaft, aber dennoch ohne Schnörkel, malt Schulman von Schatten durchzogene Szenerien vor unsere Augen. Da versteckt sich was, auch hinter diesen Bildern. Man will wissen, was warum passiert ist und fiebert auf eine endgültige Erklärung hin.
Die kommt dann auch, erbarmungslos und traumatisch und mit einem Plottwist, den man so nicht erahnen kann. Ein Twist, der alles Gesagte in ein anderes Licht stellt und an der Realität rüttelt. Mehr sei hier nicht verraten, aber das ist schon so ein Moment, der einem den Boden unter den Füßen wegzieht.
Wer sich bei der Frage erwischt, ob eine Familie wirklich so sein kann oder ob das nicht übertrieben ist, der sollte wissen, dass Schulmans Roman autobiografisch ist. Nicht alles ist genauso passiert, und der große Twist ist erfunden, aber die Konstellation und die Probleme der Familie entstammen Schulmans eigenem Aufwachsen und Erleben. Bei einem Online-Treffen mit ihm, das dtv für einige Blogger arrangiert hatte, und an dem ich auch teilnehmen durfte, sprach er erstaunlich offen darüber – auch über den Lektoratsprozess und die Reaktionen auf sein herausforderndes Buch. Dass die Geschichte auf tatsächlichen, persönlichen Erfahrungen beruht, verstärkt bei mir die Verstörung noch mehr – und das Mitgefühl und die Bewunderung, als so zugewandter und authentischer Mensch wie Schulman aus so einer Vergangenheit hervorzugehen.
„Die Überlebenden“: Der Titel ist wirklich Programm. Auch wenn Schulmans Roman mit einem Licht am Ende des Tunnels aufhört, ist das kein Buch, in dem alles gut wird. Die Figuren überleben, aber sie sind keine Helden, und sie sind alles andere als unbeschadet. Wie überstehen Kinder solche Eltern? Wie prägt sie schweres Trauma? Was für Menschen macht das aus ihnen?
Mit Sicherheit ist dieser Roman auch therapeutisch. Schulman spricht von einer Katharsis. Die ist allerdings ungewohnt schonungslos und lässt einen nach einem schnellen, fiebrigen Fliegen durch die kurzen Kapitel und knapp 300 Seiten nach Luft schnappend zurück. Das hier ist kein hübscher schwedischer Sommer-Familienroman. Das ist ein lauernder Abgrund.
Danke an den dtv-Verlag für das Rezensionsexemplar!
Eine tolle Besprechung, die mich sehr neugierig auf diesen Roman macht. Vielleicht lese ich ihn dann an einem hellen, freundlichen Sommertag. Viele Grüße, Jana