Titel: Whiteout
Autorin: Anne von Canal
Sprache: Deutsch
Format: gebundene Ausgabe
Verlag: mare
erschienen: 29.08.2017
Länge: 192 Seiten
„Whiteout“ ist direkt beim mare Verlag erhältlich, oder natürlich beim Buchhändler eures Vertrauens.
Zum Buch:
Schnee. Licht. Himmel. Eis. Alles ist gleißend weiß, oben und unten vertauschen sich. Die Linie des Horizonts – verschwunden. Bei einem sogenannten „Whiteout“, ob in den Polargebieten oder im Hochgebirge, geht jede Orientierung verloren.
Ein hoch metaphorischer Titel also, den Anne von Canal ihrem kurzen Roman verpasst hat. Und sie kostet ihn aus: in ein zunehmend desorientiertes Kammerspiel inmitten unendlicher Weiten platziert sie ihre Hauptfigur, in die Arktis, fern von Bezugspunkten zu Zeit, Raum oder normaler Realität. Dort soll Glaziologin Hanna eine fünfköpfige Forschertruppe leiten, die durch tiefe Bohrungen im Eis Aufschluss über die Vergangenheit des Planeten ans Licht bringen sollen. Hanna selbst – das bietet sich an – steht unfreiwillig an einem eigenen, persönlichen Bohrloch: „Lieber Amundsen, Scott ist tot.“ Dieser Satz in einer Email ihres Bruders legt die Vergangenheit und eine intensive Freundschaft wieder frei, die sich von Jahren plötzlich im Nichts verlor. Hannas Kinderfreundin Fido, nach dem Arktisforscher Scott benannt, verschwand nach einem gemeinsamen Urlaub, vor Antritt des Studiums, kommentarlos aus Hannas Leben.
Während das Wissenschaftslerteam mit immer widrigeren Bedingungen beim Bohren, mit der Witterung und persönlichen Anspannungen untereinander zu kämpfen hat, nimmt uns Anne von Canal in einer zweiten Zeitebene mit in Hannas Kindheit und Jugend. Eine Zeit, in der Hanna, Fido und Jan eine intensiv leuchtende Musketierfreundschaft lebten und aus einem Hörspiel über die Polarforscher Scott, Amundsen und Wilson ihre Zukunftsträume bauten.
Diese Erinnerungen, die Hanna mit intimem „Du“ an Fido selbst richtet, sind vielleicht die stärksten Seiten des Romans. Sie sind kraftvoll, von warmer, mutiger Atmosphäre durchsetzt. Sie fangen das Aufbegehren der in einem strengen Priesterhaushalt aufwachsenden Fido genauso flackernd ein wie die intensive Zuneigung Hannas zu ihrer Freundin. Ein unzertrennliches Dreiergespann gemeinsam mit Jan, bei dem die Grenzen zwischen Körpern und Träumen kaum mehr sichtbar sind.
Die Nähe und Intimität dieser Passagen kontrastiert mit der Kälte und aneinander gepferchten Gereiztheit im Präsenz. Hanna im Forschercamp wirkt ablehnend, feindselig und aggressiv. Natürlich ahnen die Kollegen nichts von ihrem inneren Tumult, den die Todesnachricht auslöst. Es macht die Sache auch nicht einfacher, dass ihr Team aus unterschiedlich anstrengenden Persönlichkeiten zusammengesetzt ist, vom Clown über den Draufgänger bis hin zur zahlenversessenen Autismus-Spektrum-Nerdin mit wenig Sinn für Hannas Emotionalität. Von Canal hat da eine Truppe geschaffen, die Klischees einerseits aufgreift, in ihrer Feinabstimmung aber geschickt umschifft.
Dennoch: während die Vergangenheit wohltuend und verstehbar aus dem Text glimmt, ist Hannas „Tiefenerkundung“ in der Gegenwart nicht so gut nachvollziehbar. Ja, die Situation beim Bohren wird schwierig, sogar gefährlich. Ja, die Gemüter erhitzen sich. Ja, Hanna ist emotional angegriffen. Trotzdem ist ihr Verhalten befremdlich, nicht ausreichend einfühlbar. Warum sie als Frau der Fakten auch nicht einmal bei ihrem Bruder nachfragt, was denn genau geschehen ist, wie Fido gestorben ist, leuchtet wenig ein. Die bohrende Frage, warum Fido verschwand, wird so nicht nur nie geklärt, sondern Hanna unternimmt überhaupt keinen Versuch, eine tatsächliche Antwort zu finden.
Vielleicht geht es darum auch gar nicht. Vielleicht geht es um den Prozess, endgültig von etwas – oder jemandem – Abschied zu nehmen. Den letzten Schritt der Trauer zu vollziehen. Vielleicht ging das als junge Frau für Hanna nicht, und die Situation im Eis, an dem Ort, wo nur Hanna ihren damaligen Traum schließlich in die Tat umsetzt, ist der richtige Zeitpunkt dafür?
Jedenfalls bleibt am Schluss vieles offen und einiges nicht erklärt. Das ist etwas frustrierend, wenn man gerne Antworten bekommt. Auch der im Klappentext aufgebaute Erwartungshorizont an eine Überlebenskampf im Eis wird nicht befriedigt. So dramatisch wird es dann doch nicht. Sprachlich von bildlicher Klarheit, ist „Whiteout“ ziemlich stark bis zu einem Ende, das dann keine schönen Rundungen hat und sich unfertig anfühlt. Fragt sich, ob das gewollt ist, sinnbildlich für die abgebrochene Beziehung ohne Erklärung, von der sich Hanna trennen muss. Ist es das? Man müsste Frau von Canal fragen.
Fazit:
Ein Roman für einen kurzen, klaren Wintertag, an dem man für einige Stunden intensiv in literarisches Eis einbrechen möchte. Es geht um Erinnerungen, um Freundschaft, um Lebenswege. Um Abbruch, Erklärungslosigkeit, um Abschied. Das fühlt sich erst intensiv an, in den Vergangenheitspassagen warm und reichhaltig, in der Gegenwart dann zunehmend desorientierend und nicht sehr nachvollziehbar. Am Schluss: Fragen, keine Antworten. Für Hauptfigur Hanna vielleicht ein Abschluss. Für den Leser? Der Durchblick bleibt verschneit.
Bewertung: 6 von 10 Punkten
Danke an den mare Verlag für das Rezensionsexemplar!