Rezension: ‚Opferzeit‘ von Paul Cleave

OpferzeitTitel: ‚Opferzeit‘

Originaltitel: ‚Joe Victim‘

Autor: Paul Cleave

Format: Hörbuch

Sprache: Deutsch (Originalsprache: Englisch)

Sprecher: Martin Keßler

Anbieter: Random House Audio, Deutschland

erschienen: 14.10.2013

Spieldauer: 14 Std 26 min (ungekürzt)

Das Hörbuch ist als Download bei audible.de erhältlich, und zwar HIER.  Es kostet im Flexi-Abo €9,95 (regulärer Preis: €11,95).

Achtung: Der Download von Audible enthält zusätzlich eine PDF-Datei mit einem Steckbrief von Joe, Infos zum Buch von Paul Cleave selbst sowie ein Interview mit dem Autor. Der Steckbrief ist zu vernachlässigen, aber Paul Cleave’s Aussagen über die Entstehung des Sequels sind interessant zu lesen.

Eine Hörprobe gibt’s HIER.

Beschreibung (audible):

Die Einwohner von Christchurch sind aufgebracht. Ein Jahr nach der brutalen Mordserie, die ihre Stadt erschütterte, beginnt der Prozess gegen Joe Middleton, den berüchtigten „Schlächter von Christchurch“. Doch der beteuert nach wie vor seine Unschuld. Unterdessen zieht sich die psychopathische Melissa X einen neuen Killer heran, um Joe, mit dem sie einst eine unheilige Liaison einging, zu töten.

Die Fortsetzung des Bestsellers „Der siebte Tod“.

Zum Hörbuch:

Achtung! Diese Rezension enthält Spoiler für DER SIEBTE TOD, den Vorgänger dieses Hörbuchs!

So, so. ‚Slow Joe‘ ist wieder da. Das serienmordende Mamisöhnchen, das sich in DER SIEBTE TOD als scheinbar tumbe Reinigungskraft im Polizeirevier von Christchurch herumgetrieben und alle an der Nase herumgeführt hat. Naja, nicht alle. Vor allem eine nicht. Sonst wäre die unschöne Sache mit der Zange schließlich nicht passiert… Aber gut. Dieser Teil der Geschichte ist abgehakt. Kommen wir zur Fortsetzung:

Es ist jetzt kein wirklicher Spoiler, dass Joe seine Festnahme überlebt hat, oder? Paul Cleave schildert uns in einem packenden Flashback, im bewährten dramatischen Präsenz und aus Joe’s Ich-Perspektive, wie das von statten gegangen ist. Hart, unmittelbar, distanzlos und sarkastisch – so kenne und mag ich das von Cleave. Dazu die erbarmungslose Coolness von Sprecher Martin Keßler, der sich mal wieder anhört, als hätte er zum Frühstück Stahlwolle gegessen. Ich bin begeistert und stecke sofort tief im Hörbuch drin.

Schade, dass die Euphorie nicht anhält.

Joe sitzt seit geraumer Zeit im Knast fest und wartet auf den Beginn seines Prozesses. Ebenso wie er steckt auch die Geschichte leider über weite Teile des Hörbuchs fest. Zwar gibt es einen parallelen Handlungsstrang mit Morden, Blutvergießen und einer aktiven zweiten Hauptfigur. Aber trotzdem kann dieser bewegte Teil der Story nicht verhindern, dass man die statisch wirkenden Gefängnisszenen irgendwann leid wird und sich wünscht, dass Joe endlich da raus kommt und die Sache mehr Feuer und Spielraum erhält.

Ja, Cleave gibt sich Mühe, Joe’s Zeit im Gefängnis unterhaltsam für den Hörer/Leser zu gestalten. Viel Spaß machen vor allem die Szenen, wo sich Joe’s Wege im Knast mit denen alter Bekannter aus anderen Cleave-Thrillern kreuzen. Theo Tate und Carl Schroder haben schon so einige Serienkiller verhaftet, und als man sich hinter Gittern begegnet, geht es untereinander grimmig und gewaltsam zu.

Mit seiner Masche, sich als geistig minderbemittelter, psychisch kranker ‚Slow Joe‘ auszugeben, kommt Joe allerdings nicht mehr sehr weit. Nicht bei den Experten im Gefängnis, und auch nicht beim Hörer/Leser. Mir geht sein Festhalten an der Strategie, sich für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, irgendwann nur noch gehörig auf die Nerven, ebenso wie sein Gejammer über seine Situation.

Zum Glück steigt die Spannung im letzten Drittel doch noch, und es kommt die erhoffte Bewegung in die Sache. Ich will hier nichts verraten, aber der Showdown ist rasant, bietet unterhaltsame Wendungen sowie reichlich Action und etwas Blut. Selbst wenn der Epilog mich nicht mitnehmen kann – das ist allerdings reine Geschmackssache.

Eine weitere Schwäche von OPFERZEIT ist der fehlende Tiefgang. In Paul Cleave’s besten Christchurch-Thrillern sind die Hauptfiguren zerrissene Menschen, die neben einer dunklen Seite auch eine helle haben. Es sind Killer, die im Leser ambivalente Gefühle hervorrufen, weil wir sie (wenn wir ehrlich sind) sogar verstehen können.  Weil wir wissen, woher ihr Schmerz, ihre Wut, ihre Rachegelüste kommen, und ein kleiner Teil von uns heißt ihre Gewaltorgien schamhaft gut, während der andere mit der Brutalität moralisch gar nicht klar kommt. (Sehr zu empfehlen in dieser Hinsicht: DAS HAUS DES TODES und DER TOD IN MIR).

Aber weder Joe noch die zweite Hauptfigur können bei mir diese Ambivalenz wecken. Cleave gibt sich alle Mühe, an Joe Seiten freizuschaufeln, die, wenn auch nicht unbedingt Sympathie, so zumindest Mitleid wecken sollen. In den Gesprächen mit der Psychologin erfahren wir viel über Joe’s Vergangenheit, und da haben sich Dinge abgespielt, die nicht schön sind. Sie sind aber auch nicht Grund genug, Joe’s Abartigkeit weniger abartig erscheinen zu lassen oder gar ein gewisses Verständnis für ihn aufzubringen. Meine Abneigung ihm gegenüber bekommt zwar ein paar weiche Stellen, aber mehr auch nicht.

Gleiches gilt für Melissa. Auch sie hat einiges hinter sich und ist nicht nur das eiskalte Biest, das wir in DER SIEBTE TOD kennengelernt haben. Dennoch ist das keine Entschuldigung für ihre gnadenlose Vorgehensweise. Es gibt Frauen, die haben das Gleiche hinter sich und werden trotzdem nicht zur Serienmörderin. Ja, ganz, ganz am Schluss bin ich einmal kurz gerührt, aber das ist leider zu spät.

Menschlich gesehen muss Carl Schroder es also rausreißen. Das macht er auch ganz gut. Ich habe ihn liebgewonnen, diesen schroffen Einzelkämpfer mit dem tief, tief versteckten weichen Kern. Er hat etwas von einem neuseeländischen John McClane mit seiner Unverwüstlichkeit und der Familie im Hintergrund. Ganz klar der hartkantige Sympathieträger in OPFERZEIT.

Großes Kino und einer der Gründe, sich OPFERZEIT unbedingt als Hörbuch zu Gemüte zu führen, ist Martin Keßler’s Dartstellung von Joe’s Mutter. Mein Gott, redet diese Frau ihren Sohn in Grund und Boden! Penetrant, ohne jedes Realitätsgefühl und von erstickender Dominanz beseelt, möchte man Joe geradezu anflehen, seine Mordgelüste doch endlich mal auf seine eigene Mutter anzuwenden und ihr bitte, bitte den Hals umzudrehen! Martin Keßler spricht sie laut, durchdringend, ganz und gar nervtötend und einfach perfekt. Die unterhaltsamste Figur dieses Thrillers, ohne Frage.

Zum Sprecher:

Wegen Martin Keßler habe ich mich geduldet, bis die Hörbuchversion von OPFERZEIT erschien. Der dreckige Sarkasmus, die scheinbare Emotionslosigkeit, die unmittelbare, fatalistische Erzählweise der Christchurch-Krimis – all das findet wunderbare Resonanz in der Stimme von Martin Keßler. Er ist der beste für Cops wie Carl Schroder, die illusionslos aber nicht totzukriegen durch den Sumpf des Verbrechens waten. Man hört in dieser Stimme ein ganzes Leben voller Abgründe über die der gute Carl einen Schutzschild aus Coolness gelegt hat.

Ebensogut gibt Keßler den fast weinerlichen Joe mit seinem Möchtegern-Scharfsinn und die eiskalte Killerin Melissa. Nicht zu übertreffen ist das ignorante Gekeife von Joe’s Mutter. Zweifellos das Highlight der Hörbuchversion.

Volle Punktzahl für diesen Sprecher!

Fazit:

OPFERZEIT kommt nicht an seinen Vorgänger, DER SIEBTE TOD, heran. Das liegt zum einen daran, dass die Hauptfigur Joe sich etwas abgenutzt hat und auch trotz Cleave’s mühsamer Versuche, ihm neue Seiten abzugewinnen, letztlich der Alte bleibt.

Zum anderen kann Cleave seine üblichen Stärken nicht ausspielen: Beiden Serienkillern fehlt die Ambivalenz aus anderen Büchern der Christchurch-Reihe. Sie stürzen uns nicht in Gewissenskonflikte, stellen unsere moralischen Überzeugungen nicht in Frage.

Zum anderen ist der Spannungsbogen nicht so stark wie bei Cleave gewohnt. Wenn die Hauptfigur einen Großteil des Romans im Knast sitzt, ist das auch schwierig. Das kann auch der zweite Handlungsstrang nicht ändern. Die Rasanz des Showdowns kommt etwas zu spät.

Als Pluspunkte gibt es ein Wiedersehen mit liebgewonnenen Figuren auf beiden Seiten der Gefängnisgitter, und Joe’s nervtötende Mutter macht sich – besonders durch Martin Keßler’s stimmliche Interpretation – hier endgültig zur lebenden Legende.

Das schwächste Buch, das ich bisher von Paul Cleave gelesen habe, aber immer noch besser als der branchenübliche Durchschnitt.

Bewertung:

Hörbuch: 6 von 10

Sprecher: 10 von 10

Offizielle Webseite von Paul Cleave: http://www.paulcleave.co.nz/de/index.php

Paul Cleave ist sehr aktiv auf seiner Facebook-Seite, twittert gerne unter @PaulCleave und hält regen Kontakt zu seinen Fans und Lesern.

Diese Rezension ist übrigens mein November-Beitrag für die Hörbuch-Challenge 2013.

Ein Gedanke zu “Rezension: ‚Opferzeit‘ von Paul Cleave

  1. buechermonster 16. November 2013 / 14:06

    Überraschenderweise kann ich dir mal wieder nur voll zustimmen ;-)

    Für mich ist „Opferzeit“ bisher auch das schwächste Paul-Cleave-Buch und mir fehlt hier ebenfalls der gewohnte Tiefgang und auch eine wirklich interessante Geschichte. Es kommt halt irgendwie nicht richtig Schwung in die Story, wenn die Hauptfigur die ganze Zeit im Gefängnis sitzt…

    Außerdem fand ich es auch stellenweise einfach etwas zu albern und zu vulgär, gerade die Sandwich-Szenen und Joes „Verdauungsprobleme“ waren eigentlich völlig überflüssig.

    Ich habe zwar dann doch einen Punkt mehr vergeben als du, aber dieser geht dann auch mehr auf das Konto von Martin Keßler. Alleine schon wenn ich an die Telefongespräche mit der Mutter denke bekomme ich schon wieder ein dickes Grinsen im Gesicht :D

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