Rezension: ‚Der Ursprung des Bösen‘ von Jean-Christophe Grangé

Titel: ‚Der Ursprung des Bösen‘

(frz. Originaltitel: ‚Le Passager‘)

Autor: Jean-Christophe Grangé

Sprache: Deutsch (Originalsprache: Französisch)

Sprecher: Dietmar Wunder

Format: Hörbuch-Download von audible.de für €9,95 im Flexi-Abo

Länge: 21 Std 21 min (ungekürzt)

Hörprobe

Inhaltsangabe (audible):

Mathias Freire leidet unter einer rätselhaften Krankheit. Sobald er in Stress gerät, fällt er in Ohnmacht. Und wenn er das Bewusstsein wiedererlangt, ist er ein anderer: Ein neues Ich hat sich formiert, mit einer neuen Vergangenheit, einem neuen Lebensschicksal. Währenddessen sucht die Polizei nach dem Täter einer Serie von Ritualmorden, die allesamt in der Nähe Freires verübt wurden, ohne dass man ihm etwas nachweisen kann. Und wenn nun doch er der Mörder ist? Auf sein Gedächtnis ist kein Verlass. Freire muss einen Weg finden, um seine Vergangenheit zu rekonstruieren. Doch die Suche nach seiner wahren Identität wird zu einem entsetzlichen Albtraum, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint.

Zum Hörbuch:

Am Anfang ist erst mal Stirnrunzeln angesagt. Habe ich mich ins falsche Buch verirrt? Oder hat der Klappentexter beim Verfassen der Inhaltsangabe Unfug fabriziert? Es ist nämlich nicht Mathias Freire, der zu Beginn des Buches ohne Gedächtnis herumläuft und in einen Mord verwickelt zu sein scheint, sondern jemand ganz anderes. Freire dagegen ist der Psychiater, der den armen Kerl zu behandeln versucht. Huch?

Ein Weilchen später richtet sich das aber gerade, und die Inhaltsangabe stimmt zunehmend mit der Handlung überein, so dass ich mich entspannen und anfangen kann, das Hörbuch zu genießen. (Hallo, Klappentexter – ein paar zusätzliche Zeilen zu Beginn der Zusammenfassung hätten dieser unnötigen Verwirrung leicht vorgebeugt!)

Erfreulicherweise folgt genau das, was ich mir erhofft hatte. Aufgeteilt auf zwei Handlungsstränge, die sich kurz kreuzen und am Ende zusammen finden, genieße ich eine ausgiebige Mord-Mystery-Psycho Geschichte nebst Verschwörungen, markanten Hauptdarstellern, Exkursen in Sachen Kunst und griechische Mythologie, und kann mich über ein packendes Finale sowie unerwartete Wendungen freuen.

Gehen wir’s durch, das Positive:

Eine charismatische Hauptfigur ist das A und O, und Freire erfüllt alle meine Erwartungen. Die Chemie zwischen uns stimmt sofort, als der sympathische, kluge und zurückhaltende Psychiater das erste Mal auf dem Klinikflur auftaucht. Meine Zuneigung geht auch nicht verloren, als Freire überhaupt nicht mehr der zu sein scheint, für den er sich ausgibt, und gar in Verdacht gerät, ein durchgedrehter Mörder zu sein. Zu sehr habe ich da schon für ihn Partei ergriffen, und das ist gut so, hat der Arme über weite Strecken des Thrillers doch nur den Hörer als Verbündeten.

Ihm gegenüber gestellt wird die Kommissarin Anaïs Chatelet. Instabil und mit traumatischem Ballast beladen, wie sie ist, braucht die junge Dame etwas länger, um meine Loyalität zu verdienen. Sie ist mit Sicherheit eine gut entwickelte Figur mit Rissen und Tiefe, aber das wirkt manchmal etwas zu viel. Mehr als einmal habe ich mich gefragt, warum so jemand nicht längst in der Klappse gelandet oder zumindest aus dem Polizeidienst ausgeschieden ist. Aber Anaïs schlägt sich auf Freire’s Seite, also mag ich sie.

Die Geschichte ist ein Leckerbissen für jeden, der’s verschachtelt und verschlungen mag. Grangé schickt neben der Polizei den Hauptverdächtigen selbst auf Spurensuche – und zwar rückwärts und nach sich selbt. Hier geht es nicht darum, in einem verzeifelten Anrennen gegen die Zeit einen Serienkiller vom nächsten Mord abzubringen. Schicht für Schicht wühlt sich Freire stattdessen in die Vergangenheit. Auf der Spur zurückliegender Morde, auf dem Weg von Stadt zu Stadt, auf der Flucht vor der Polizei schält er eine Identität nach der anderen frei, um zum Ursprung zu gelangen. Grangé nimmt sich für jede dieser Identitäten die Zeit, aus ihnen eine runde Sache zu machen und jedes Mal ein weiteres Stück zum Puzzle hinzu zu fügen.

Das ist nicht nur strukturell spannend. Immer wieder bringt Grangé gerade dann Schwung in die Sache, wenn es langatmig zu werden droht. Anaïs und ihre Kollegen bleiben Freire auf den Fersen, und dann sind noch andere gnadenlose Gestalten hinter ihm her. Für genug Leichen, Blut, Ekel und plötzliche Schreckmomente ist gesorgt, ohne dass diese jedoch zur plakativen Hauptangelegenheit werden. Besonders Grangé’s ausführliche Schilderung des Obdachlosenmilieus ist nichts für Zartbesaitete und macht dabei gleichzeitig einen ernüchternd authentischen Eindruck. Gewalt und Tod sind allgegenwärtig, aber keine billigen Aufhänger für die Story.

Denn es geht um Freire. Es geht um den Verlust der eigenen Identität. Um die Zweifel daran, wer man wirklich ist. Ob unter diesen vielen Schichten vielleicht tatsächlich eine Bestie lauert. Das hat zeitweise etwas von den Jason Bourne-Thrillern an sich, bleibt aber weniger actionlastig und dafür düsterer, mystischer, mehr auf die innere Reise des Helden konzentriert als bei Ludlum.

Schön auch, dass Grangé griechische Mythologie mit in den Mix wirft, deren zeitloser Grausamkeit und Faszination man sich schlecht entziehen kann. Zumal der Bezug zu Minotauros und Co. hier nicht abgedroschen wirkt. Dazu kommt noch der doppelte und dreifache Boden, den Grangé einbaut. Sein Mörder ist nicht einfach ein grundlos Durchgeknallter. Eine ganze Lebensgeschichte und die Interessen Dritter verleihen der Geschichte und ihrer Auflösung sowohl Breite als auch Tiefe.

Apropos Auflösung: Die ist gut gemacht, spannend, überraschend. Allerdings muss man Vernunft und Logik teilweise vor die Tür bitten, um sich mal die Füße zu vertreten. Grangé trägt nicht nur am Schluß etwas dick auf. Seine Figuren sind stellenweise überzeichnet und – was eigentlich das gößere Problem ist – kommen immer wieder zu rein intuitiven, nicht nachvollziehbaren Schlussfolgerungen. Das sorgt direkt zu Beginn für heftiges Augenbrauenhochziehen, als Freire ohne wirklich triftigen Grund an seinem eigenen Verstand zweifelt. Auch Anaïs‘ Entscheidungen sind manchmal alles andere als schlüssig oder glaubwürdig.

Wenn man sich darüber aber nicht aufregt und einfach mal ein Auge zudrückt, kann man Grangé’s düsteren Mystery-Psycho-Thriller sehr genießen.

Der Sprecher:

Es verwundert nicht, dass Dietmar Wunder ganze Arbeit leistet. Und das hat nichts damit zu tun, dass er die deutsche Stimme von ‚James Bond‘ Daniel Craig ist. Er ist für mich einer der makellosesten, konstantesten Sprecher überhaupt. Da gibt es einfach nix zu mäkeln. Seine Stimme hat den richtigen Touch für düstere Geschichten, und er erdet Freire in diesem Verwirrspiel wohltuend. Wunder gibt den kompetenten Psychiater Freire genauso gut wie den flüchtigen Obdachlosen oder die anderen Identitäten und Figuren.

Was die französischen Namen angeht, bewältigt Wunder diese mit unspektakulärem Schul-Französisch. Schmerzhaft zusammen zucken muss man jedenfalls an keiner Stelle, und das finde ich bei einem Hörbuch mit ‚Fremdsprachenanteil‘ immer wichtig.

DER URSPRUNG DES BÖSEN liegt bei audible noch in einer zweiten Fassung vor, in der neben Dietmar Wunder Nicole Engeln die weibliche Perspektive von Anaïs spricht. Bestimmt auch ganz interessant, aber ich habe eine weibliche Stimme in dieser Version nicht vermisst. Dietmar Wunder wuppt auch die psychisch vernarbte Kommissarin sehr überzeugend.

Fazit:

Eine sinistre, verschachtelte Geschichte um einen Mann, der von einer Identität in die andere rutscht und selbst nicht weiß, ob er am Ende für eine grauenvollen Mordserie verantwortlich ist. Dazu eine verstörte Ermittlerin, etliche interessante Nebenfiguren, eine Reise quer durch Frankreich und ein Spiel mit doppeltem Boden, das tief in die Vergangenheit reicht.

Mit der Logik darf man es nicht allzu genau nehmen, und Grangé beruft sich etwas zu oft auf die Intuition seiner Charaktere, aber darüber kann man mit etwas gutem Willen hinweg sehen. Dafür kann man dem Autor im Gegensatz an keiner einzigen Stelle Seichtheit oder Oberflächlichkeit vorwerfen – dieser Thriller besteht nicht aus Pappfiguren und blassen Kulissen, sondern ist voll und ganz entwickelt und ausgemalt.

Am Schluss bleibt das Gefühl, durch einen faszinierenden Abgrund gelaufen zu sein, und zwar mit einem Ende, das der Sache würdig ist.

Bewertung: 8/10

4 Gedanken zu “Rezension: ‚Der Ursprung des Bösen‘ von Jean-Christophe Grangé

    • papercuts1 4. Oktober 2012 / 5:09

      Ja, sieht ganz danach aus. Ich hätte deine Rezi eigentlich auch einfach mit copy&paste hier rüberziehen können… ;)

      • buechermonster 4. Oktober 2012 / 7:38

        Ich finde es ja auch beruhigend, dass du auch so deine Probleme mit dem Klappentext hattest ^^

      • papercuts1 4. Oktober 2012 / 8:58

        Ja, das hat mich echt verwirrt. Hätte es wohl jeden, wie man an unserer gleichen Reaktion sieht. Und es kommt immer öfter vor, dass ich Klappentexte oder Inhaltsangaben irreführend finde. Manchmal sind sogar echte Fehler drin! Ärgerlich.
        Vielleicht meinen die, im Zeitalter von Lese- und Hörproben kann man da nachlässig sein? Sehe ich jedenfalls ganz anders, und als Autor würde mich sowas aufregen.

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