Rezension: ‚Der Klavierstimmer‘ von Pascal Mercier

Titel: ‚Der Klavierstimmer‘

Autor: Pascal Mercier

Sprache: Deutsch

Sprecher: Stephan Schad, Marlen Diekhoff, Ulrike Grote, Boris Aljinovic, Walter Kreye

Format: Audio CDs

Laufzeit: 7 Std. 58 min (gekürzt)

Inhaltsangabe (libri):

Mord in der Berliner Staatsoper: der berühmte italienische Tenor Malfitano wird im dritten Akt von Puccinis Tosca erschossen. Der Täter: ein stadtbekannter Klavierstimmer und Meister seines Fachs, der schon in Karajans Diensten stand. Wie konnte es zu diesem unfassbaren Geschehen kommen? Die Kinder des „Mörders“, die Zwillinge Patrice und Patricia, reisen überstürzt nach Berlin. Jahre zuvor waren sie vor ihrer inzestuösen Liebe an verschiedene Enden der Welt geflohen. Ihr Wiedersehen und die unbegreifliche Schuld des Vaters führen zu einer radikalen Umkehr. Während sie schreibend ergründen, was ihren Vater, der eigentlich ein glückloser Opernkomponist war, zur Waffe greifen ließ, begegnen sie einander in einem befreienden Akt des Erinnerns.

Zum Hörbuch:

Zwei Herzen schlagen in meiner Brust, wenn ich dieses Hörbuch bewerte. Das eine flattert vor Glück über den sorgsamen, sinnlichen und eleganten Schreibstil, mit dem Mercier beeindruckt. Jeder Satz ist wohl überlegt und formuliert, das hört man. Die Sprachmelodie, die besonders im Hörbuch exzellent zum Ausdruck kommt, hat – sehr passend zur Thematik des Romans – den Rhytmus einer musikalischen Komposition. Merciers Sprache schwelgt und zögert, berauscht und betäubt, berührt und betrübt. Das ist hohe Kunst und genau das, was ich unter dem Label ‚literarischer Roman‘ verstehe.

Daher gehört DER KLAVIERSTIMMER auch zu den wenigen Hörbüchern, die ich nicht gut ’nebenbei‘ hören konnte. Anstatt dabei zu kochen oder zu bügeln, musste ich mich tatsächlich hinsetzen und ganz auf das Hörbuch konzentrieren. Sowohl die feinsinnige Sprache als auch die leise, intensive Erzählweise der Sprecher verlangten volle Konzentration, und ich wollte kein Wort verpassen.

Für die Sprache allein gäb’s die Höchstpunktzahl.

Mit der Geschichte jedoch habe ich mich schwer getan. Überraschenderweise. Denn schwermütige, psychologisch dichte Romane liegen mir eigentlich. Es kann gar nicht melancholisch oder tragisch genug sein. Dachte ich!

DER KLAVIERSTIMMER ist ein wahrer Abgrund an Tragik. Waisentum, inzestuöse Liebe, zerstörte Träume, Missbrach, Sucht, Schicksalsschläge und ein mysteriöser Mord – das sind nur ein paar Ingredienzen der verschachtelten Geschichte um die Familie des Frédéric Delacroix herum. Tatsächlich sind es fesselnde, teils betörende Geschichten, deren Drama und Traurigkeit man sich nicht entziehen kann.

Mir allerdings war es ein bisschen viel des Guten. Die Schwermütigkeit, die sich in jeder Figur und ihrem Schicksal offenbart, war mir manchmal zu…nun ja…schwer. So viel gebündeltes Unglück mag zwar auch im wahren Leben existieren, kam mir hier aber zu konstuiert vor. So viel veflochtene Tragik war mir einerseits zu erdrückend und andererseits nicht mehr ganz glaubwürdig. Wenn fast jede kleine Geste zu einem bedeutungsschwangeren Schicksalsmoment wird und alles geradezu unweigerlich auf kolossales, vorprogrammiertes Scheitern hinausläuft, hat das etwas von einer großen, tragischen Oper – und wird damit zu einem Abstraktum. Zu etwas, das mich nicht mehr wirklich anrührt, weil ich es als Fiktion erkenne. So wie hier geschehen.

Um das klarzustellen: Mercier hat allein durch die verschachtelte Struktur des Romans etwas Faszinierendes erschaffen. Aus wechselnden Perspektiven, auf verschiedenen Zeitebenen, als Erinnerungen, auf Papier niedergeschriebene Geständnisse erschließt sicht nach und nach das Motiv für den begangenen Mord. Stückchenweise tun sich Abgründe auf und fügt sich ein großes Bild ineinander, und das ist beeindruckend gemacht. Tatsächlich erkenne ich erst beim Schreiben dieser Rezension, dass Mercier hier tatsächlich genau dasselbe getan hat wie der tragische Held des Buches – er hat eine Oper geschrieben, und zwar in Romanform.

Aber an Opern scheiden sich ja bekanntlich die Geister. Und ich habe entweder zu wenige Opern gesehen, oder sie sind nicht wirklich mein Fall. Letztendlich sind sie mir einen Ticken zu dick aufgetragen, um mir tatsächlich nahe zu gehen. Das gilt für den KLAVIERSTIMMER genauso. Wie gesagt – ich mag es düster und dramatisch. Möglicherweise war ich auch einfach nicht in der richtigen Stimmung für dieses Hörbuch. Aber wenn ich am Ende eines Buches das Gefühl habe, wahlweise Antidepressiva nehmen zu müssen oder den Autor um etwas weniger Pathos bitten zu müssen, dann ist etwas schief gelaufen.

Nicht schief gelaufen dagegen ist Merciers ‚Bildungsauftrag‘ in Richtung des Lesers. Die Oper, die Frédéric schreibt, basiert auf Kleists ‚Novelle‘, und tatsächlich habe ich mich hingesetzt und darüber recherchiert. (Nein, ich hatte sie noch nie gelesen. Ich bin so ein Banause.) Wenn ein Buch dazu führt, dass ich etwas Neues lerne oder Nachforschungen zu einem Thema betreibe, dann gibt das immer einen Bonuspunkt.

Der Schluss hat mich ratlos gemacht. Ich kann bis jetzt nicht sagen, ob ich ihn gut fand oder nicht. Eine Wendung aus dem Blauen heraus, und meine Augenbrauen gingen hoch bis zum Haaransatz. „WAAAAS??!“ Genau das habe ich laut gesagt. Und gegrübelt. Und das Ende mal clever, mal passend, mal doof und mal genial gefunden. Eine abschließende Meinung fehlt mir dazu nach wie vor und ist abhängig von meiner Tagesform.

Die Sprecher:

Ich hatte mich sehr auf Boris Aljinovic gefreut, musste jedoch feststellen, dass er nur ganz vorne in der Sprecherliste steht, weil sein Nachname mit ‚A‘ beginnt. Er spricht im Hörbuch erst am Schluss eine Handvoll Zeilen. Aljinovic-Fans seien also vorgewarnt.

Alle anderen passen sich in Ausdruck, Rhytmik und bedeutungsschwangerem Unterton wunderbar der Textvorgabe an. Die Stimmen sind passend zu den jeweiligen Charakteren ausgewählt, und Stephan Schad zieht den Hörer gleich zu Beginn tief in die Geschichte.  Sollte ich einen Favoriten wählen, wäre das hier Walter Kreye. Seine Stimme und Sprechweise ließen mich sofort aufhorchen. Ich kann das nur mit der raumgreifenden Präsenz eines guten Theaterschauspielers vergleichen, wenn er die Bühne betritt. Kreye machte das gleiche, nur in meinen Ohren.

Fazit:

Wunderschön geschrieben, voller sprachlicher Sinnlichkeit und Musik. Ein Buch, das in der Hörversion anmutet wie eine Oper voller Pathos. Was die Geschichte angeht, trägt Mercier ein bisschen zu viel Tragik auf einem Haufen zusammen. Der Roman bekommt übermäßige Schwere und wirkt letztendlich genauso überfrachtet wie eine düster schillernde Oper. Wenn das der Sinn des Ganzen war, hat Mercier es richtig gemacht. Für meinen Geschmack wäre etwas weniger Drama aber mehr gewesen und hätte die Geschichte weniger abstrakt scheinen lassen.

Bewertung: alles zusammen genommen, eine 7/10

PS: Danke an @hexenritt für den Hörbuchtipp!

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