„Willkommen in Lake Success“ von Gary Shteyngart


Titel: Willkommen in Lake Success
Originaltitel: Lake Success
Autor: Gary Shteyngart
Aus dem Amerikanischen von: Ingo Herzke
Format: Hörbuch, 2 mp3-CDs
Sprecher: Shenja Lacher
Verlag
: Der Hörverlag
erschienen: 14.04.2019
Länge: 13:36 Std., gekürzt

Inhaltsangabe:

Der steinreiche Börsenmakler Barry Cohen aus New York steht mit blutigem Gesicht an einer Greyhound-Busstation. Gerade eben hat er nach einem Streit seine Frau und seinen autistischen Sohn verlassen und hat jetzt nur eines vor: Alles hinter sich lassen und – per Bus – zum einfachen Leben zurückkehren. Und zu seiner verflossenen Jugendliebe.

Zum Hörbuch:

Das ist der Einstieg in Gary Shteyngart’s zeitgenössischen Roman und in ein Porträt der USA zu Zeiten von Trump’s Aufstieg. Es ist ein bissig-entzaubernder Blick auf die zwei Gesellschaftsschichten, in die sich Amerika immer mehr teilt: auf der einen Seite die Reichen in ihren vergoldeten Elfenbeintürmen; auf der anderen die Loser, die sich weit entfernt davon durchschlagen und nicht von der Stelle kommen.

Barry Cohen, die Hauptfigur,  ist ebenso lächerlich wie erzürnend. Auf dem Parkett der Wall Street mag Barry zwar ein Hotshot sein und in seiner Gesellschaftsschicht ein fähiger Businessman; aber an der Bushaltestelle hat er keine Ahnung, wie man ein Ticket kauft, und bewegt sich auch sonst äußerst naiv in der Welt der Menschen, die nicht überall mit einer goldenen Kreditkarte wedelnd alles sofort bekommen, was sie wollen. Zudem hat er sich nicht gerade als guter Vater erwiesen: Nicht nur, dass er und seine Frau den autistischen Sohn vor aller Welt versteckt haben. Er ist auch so gut wie nie für den Kleinen dagewesen und jetzt einfach getürmt.

Wir haben es also mit einem Exemplar der Sorte „unsympathischer Protagonist“ zu tun, und mit sowas muss man können, wenn man dieses Hörbuch durchhören will. Zumal der zweite Erzählstrang, aus Sicht von Barry’s Ehefrau, auch nicht viel anheimelnder ist: Seema ist zwar eine liebevolle Mutter, schämt sich aber ebenso wie Barry für den behinderten Sohn. Noch nicht einmal den eigenen Eltern hat sie von der Autismus-Diagnose erzählt und hält den Kleinen – von einer Nanny betreut – vor der Welt verborgen.

Mehr Schein als sein. Privilegiert und wohlhabend. Nach außen hin perfekt und glücklich, in Wahrheit aber alles andere als fehlerfrei und dabei kreuzunglücklich – das gilt für Barry und Seema gleichermaßen, und wir begleiten beide in „Lake Success“ auf dem Weg, der am Schluss zumindest in eine bessere Richtung zeigt.

Natürlich stellt sich für Barry im Laufe seines Roadtrips zur Selbstfindung immer mehr heraus, dass kein Geld zu haben auch nicht glücklich macht, und dass es unmöglich ist, in die Vergangenheit zurück zu kehren. Das sind die stärksten Bilder, die Shteyngart malt: die Porträts der Menschen, denen Barry begegnet. Ob seine Greyhound-Mitfahrer, die ihn mal beklauen, mal mit Solidarität unter armen Schluckern beglücken; ob der junge Drogendealer, den Barry naiv zu bekehren versucht; oder die „Ersatzfamilie“, die Barry sich erfolglos zurechtbastelt – sie alle zeichnen ein Bild des einfachen Amerika, das nur wenig mit dem amerikanischen Traum zu tun hat. Ein Bild vom Abgehängtsein, vom Irgendwie-Durchkommen, weit entfernt von Mittel- oder Oberschicht. Mit einfachem Glück hat das gar nichts zu tun.

Aber das hat die Welt der Klugen und Reichen ja auch nicht. Durch die begleiten wir Seema, während sie unglücklich bemüht ist, den hohen Erwartungen ihrer Gesellschaftsschicht zu entsprechen, durch die Behinderung ihres Sohnes aber ständig damit konfrontiert wird, dass sie eine unechte Maske aufrecht erhält. Gefakte Perfektion. Ebenso wie für den selbst-zentrierten, naiv-überheblichen Barry ist es für sie ein sehr weiter Weg zu Authentizität, Selbsterkenntnis und Akzeptanz dessen, was tatsächlich ist.

Shteyngart’s Stil ist nicht blumig und nicht metaphorisch, und dennoch malt er einen Bilderbogen aus Gesichtern, Orten, Kulissen. Wie ein Gemälde des Realismus oder wie eine „no filter“ Fotoreihe sieht das im Kopf aus. Natürlich ist der Unterton bissig, aber so lakonisch aufgestellt, dass dem Roman trotzdem eine betrachtende Distanz angehört. Man guckt sich das alles an, schüttelt den Kopf, bemitleidet die fehlgeleiteten Hauptfiguren beinahe, bleibt mit Shteyngart aber hinter der Barriere des Beobachters, der sich seinen Teil dazu denkt, ohne emotional verwickelt zu werden.

Zum Sprecher:

Shenja Lacher erzählt den Roman mit der unaufgeregten Ruhe und Zurückhaltung, die literarischen Stoffen meistens gut tun. Auch hier spricht Shteyngart’s Text für sich selbst und braucht kein Drama beim Vorlesen. Lacher differenziert subtil, aber deutlich. Wer mehr Theater gewohnt ist, mag das etwas langweilig finden, aber dieser Roman braucht das nicht. Das passt so.

Fazit:

Ein ruhiger Roadmovie-Roman über Arm und Reich in Amerika zur Zeit von Trump’s Aufstieg. Das Aufrechterhalten des schönen Scheins prallt auf die romantisierte Suche nach dem „einfachen Leben“ und landet beim Thema Selbsterkenntnis und Authentizität. Hauptfiguren, die weder sympathisch noch klug agieren, fordern einen heraus. Eine der bitteren Schlussfolgerungen ist diese: In den USA gibt es zwischen Gewinnern und Verlierern nicht viel außer eine große Lücke. Und sich selbst treu sein ist etwas, das man sich letzten Endes leisten können muss. Ein Zeitgeist-Porträt.

Bewertung:

Hörbuch: 7 von 10 Punkten

Sprecher: 8 von 10 Punkten

 

Ein Rezensionsexemplar wurde mir vom Verlag im Gegenzug für eine ehrliche Rezension zur Verfügung gestellt – danke!

 

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