Vorbeigeflogen sind die Kapitel 19 – 29. Im #TeamDickens sind die aufgeregten Tweets und DMs hin- und hergeflogen. Richtige Pageturner-Qualitäten hat die Geschichte angenommen.
Aber der Reihe nach.
Das ist passiert:
Fagin und Sikes planen einen Einbruch, für den sie einen kleinen, schmalen Jungen brauchen, um ins Haus einzudringen. Da kommt ihnen Oliver gerade recht, zumal Fagin sich sicher ist, Oliver durch die Straftat komplett an seine Bande zu binden. Der Einbruch läuft allerdings schief: Oliver wird entdeckt, angeschossen und auf der Flucht von seinen „Kollegen“ einfach blutend in einem Straßengraben zurück gelassen.
Währenddessen schmeißt sich Mr. Bumble, der Kirchspieldiener, der Armenhausleiterin und Witwe Mrs. Cornay an den Hals, offenbar aufgrund ihrer betuchten Stellung. Während er bei ihr ist, möchte eine sterbende Bewohnerin des Armenhauses noch ein Geständnis über Olivers Mutter und ihren Sohn ablegen, stirbt jedoch, bevor sie es ganz über die Lippen bringen kann.
Der schwer verwundete Oliver schleppt sich zu einem Haus – es ist das, in das er einbrechen sollte, und wird dort erst als Verbrecher identifiziert, von der gütigen Besitzerin und ihrer Nichte aber in Schutz genommen und versorgt. Sie lassen sogar ihren Arzt kommen, der sich um Oliver kümmert.
Meine Gedanken:
Meine Güte, war das spannend! Der Einbruch, Oliver’s Verletzung, das wachsende Mysterium um seine Herkunft und schließlich das Aufatmen, als er – jetzt schon zum zweiten Mal – von einer guten Seele gerettet wird. Das habe ich fast in einem Rutsch verschlungen. Dickens ist lesbar wie ein Krimi in diesem Teil.
Wieder fällt auf, was #TeamDickens-Kollegin Kathrin von @phantasienreisen festestellt hat: Oliver ist den Ereignissen ohne jeden eigenen Einfluss ausgeliefert. Die Dinge passieren ohne sein Zutun, ohne seine Wahl, ohne irgendeine Möglichkeit, dass er sie verhindern kann. Er such zwar nach der Möglichkeit, Fagin zu entfliehen, wird von der Prostituierten Nancy jedoch sofort wieder eingebremst. Keine Chance für ihn. Er ist ein Spielball der Erwachsenen und des Schicksals.
Und wieder kommt die Rettung in letzter Sekunde durch Fremde, die sich seiner annehmen, eigentlich grundlos, nur aufgrund einer gütigen Natur, die 98% aller Charaktere im Roman ansonsten komplett zu fehlen scheint.
Dabei fällt auch auf, dass Nächstenliebe nicht von den Figuren gelebt wird, die – als Kirchenmitglieder, Armenhausleiter etc. – eigentlich dafür zuständig sind, sondern von wohlhabenden Unbeteiligten, die eigentlich nicht dafür prädestiniert scheinen, sich die Barmherzigkeit aber ebenso leisten können wie sie ihnen offenbar ins Herz gelegt wurde. Es ist etwas erschütternd, dass gerade die, die auf einer sozialen Stufe mit Oliver stehen oder nur leicht über ihm, keine Solidarität mit ihm zeigen und ihm nicht helfen. Dafür braucht es dann das leicht hoheitliche Erbarmen der Oberklasse. Hm.
Über meine Abscheu gegenüber Mr. Bumble und seinesgleichen habe ich mich schon ausgelassen. Die vertieft sich hier. Jetzt versucht er auch noch, seinesgleichen – in Form von Mrs. Cornay – für materielle Zwecke auszunutzen. Da haben sich zwei gefunden, die sich verdienen, und ich habe das Gefühl (und die Hoffnung), dass der Bumerang für sie noch folgt.
Unangenehm ist die klischeehafte Darstellung von Fagin, der mit allen gängigen jüdischen Negativklischees dargestellt wird, die man aus dem späteren Faschismus so kennt. Auch die Betitelung als „der Jude“ lässt mich immer wieder zusammen zucken. Dickens mag sich sozial sehr ehrenhaft engagiert haben, aber was diese faschistische Charakterzeichnung angeht, bekleckert er sich wahrlich nicht mit Ruhm. Das macht mir arge Bauchschmerzen. Wenn seine Darstellung sich mit der damaligen allgemeinen Auffassung über Juden deckt, waren das deutliche, unheilvolle Vorboten für den Horror, der folgen sollte.
Was mich wundert, ist, wie rein Oliver’s Seele bei all dem bleibt. Man sollte erwarten, dass ihn alles, was ihm geschieht, schließlich selbst zu einem gewissenlosen, abgestumpften, vielleicht sogar bösartigen Jungen machen würde. Dass er aufgibt und sich freiwillig dem Verbrechertum verschreibt. Zu verlieren hat er ja wirklich nichts mehr. Dass das nicht passiert – gerade bei einem Kind in einem so prägenden Alter – halte ich für wenig realistisch und idealisiert. Dickens möchte uns wohl zeigen, dass es Menschen gibt, die von Grund auf gut sind und sich auch von der Welt nicht korrumpieren lassen. Oliver hat das in die Wiege gelegt bekommen, und wir werden wohl noch erfahren, von wem.
Spannende Gedanken!
Ich habe auch so meine Probleme damit, dass Dickens einerseits mehr Gerechtigkeit fordert, andererseits aber im gleichen Atemzug einen Teil der Bevölkerung ausgrenzt/ diskreditiert. „Wenn seine Darstellung sich mit der damaligen allgemeinen Auffassung über Juden deckt, waren das deutliche, unheilvolle Vorboten für den Horror, der folgen sollte.“ Da überrascht es wenig, wie leicht sich ein Feindbild aufbauen ließ, nicht wahr?! Die Verlage hatten ja auch kein Problem damit, das Buch in dieser Form zu veröffentlichen und auch Meyrink rührte dieses Stereotyp in seiner Übersetzung von 1914 nicht an.
„Es ist etwas erschütternd, dass gerade die, die auf einer sozialen Stufe mit Oliver stehen oder nur leicht über ihm, keine Solidarität mit ihm zeigen und ihm nicht helfen.“
Ich glaube, wenn man sein Leben lang ums nackte Überleben kämpft, selbst betrogen und hintergangen wurde oder wie Fagins Jungs nichts anderes als das kriminelle Leben kennt, sind sich manche wohl einfach selbst die nächsten. Andererseits liest man oft, dass meist diejenigen am meisten geben, die selbst nicht viel haben… Menschen sind nicht einfach zu verstehen – wären sie es, hätten wir wohl viele Probleme nicht mehr.
Bei Nancy blitzt immerhin ab und zu eine Art Gewissen auf und ich frage mich, welchen Weg sie im Laufe des Buches noch einschlagen wird.
Viele Grüße
Kathrin