Vom sterbenden zum lügenden Detektiv
Meine Lieblingsfolge der 4. Staffel von „Sherlock“ beruht – wie der Titel sehr unverhohlen andeutet – auf der Originalgeschichte „The Dying Detektiv“ (Der Detektiv auf dem Sterbebett). Wer’s nicht mehr parat hat: Arthur Conan Doyle lässt darin Sherlock Holmes vortäuschen, schwerkrank im Sterben zu liegen. Er schickt den besorgten Dr. Watson zu einem Spezialisten für exotische Krankheiten, um diesen herzuholen. Culverton-Smith – so der Name – kommt in die Baker Street und gesteht dem sterbenden Detektiv, ein Mörder zu sein und Sherlock Holmes mithilfe einer präparierten Schachtel vergiftet zu haben. Dr. Watson, der sich hinter dem Bett versteckt hat, springt hervor und macht Culverton-Smith dingfest. Holmes gesteht Watson daraufhin, die Krankheitssymptome nur vorgetäuscht zu haben.
Steven Moffat, Autor dieser Episode, hat die Originalzutaten genommen und sie zu einer gewieften, unterhaltsamen, verwirrenden, cleveren und teils düsteren Folge neu arrangiert, ohne den Ursprung aus den Augen zu verlieren. Das macht allen Sherlock Holmes Fans Freude: Wer den ACD Canon schon auswendig kennt, wird mit Überraschungen belohnt. Neulinge bekommen einfach eine tolle Geschichte zum Knobeln.
Moffat’s Mindfuck
Wobei „Knobeln“ schwer untertrieben ist. Man muss die Folge mehrfach gucken, um die ganze Sache mit Faith Smith/Eurus aufzudröseln und klar zu bekommen, was jetzt Realität war und was nur eine Halluzination. Und selbst dann fehlt immer noch ein Puzzlestück aus der letzten Staffelfolge, um alles komplett zusammen zu setzen. Zerbrecht euch also nicht vollkommen den Kopf.
Sherlock im Drogenrausch (Copyright BBC One)
Schon in der viktorianischen „Sherlock“-Folge „Die abscheuliche Braut“ erlebten wir Sherlock Holmes als komplett unzuverlässigen Erzähler auf einem Drogentrip. Diesmal können wir weder Sherlock’s noch John’s Wahrnehmung trauen. Die ersten paar Minuten fragen wir uns verwirrt, ob Mary gar nicht tot ist, oder ob John sie sich nur einbildet. Und bei Sherlock, der sich in arg derangiertem Zusand in der Baker Street verschanzt hat, wissen wir gar nichts mit Sicherheit: Nimmt er tatsächlich Drogen? Hat er sich den Besuch von Faith Smith nur eingebildet? Nicht einmal er selbst kann zum Schluss Realität und Halluzination noch auseinander halten und erleidet eine Art Nervenzusammenbruch. Von der Amnesie verursachenden Infusion von Culverton-Smith wollen wir gar nicht erst anfangen. Was für ein Mindfuck, Mr. Moffat!
Man muss das mögen. Wer es gerne geradeheraus hat und glasklare Abfolgen von Spuren, Beweisstücken und Hinweisen mag, die sich linear zu einem logischen Bild zusammen fügen, wird sich unwohl fühlen. Wer gerne ein bisschen hinters Licht geführt wird und das Spiel mit der Wahrnehmung mag, ist hier genau richtig. Zumal sich am Ende, wenn einem per Supertwist der Teppichboden unter den Füßen weggezogen wird, tatsächlich alle Teile ineinander fügen. Man schnappt nach Atem, wedelt aufgrund des Cliffhängers mit den Armen und will dann gleich nochmal gucken und überprüfen, ob man wirklich zu blind war um zu merken, was da vor sich ging. So macht das zweite Anschauen genau so viel Spaß wie das erste.
Wir sind alle manchmal menschlich
Am Ende der Fahnenstange angelangt: John, Molly und Sherlock (Copyright: BBC One)
Jetzt wissen wir zumindest, was Mary mit „Geh zur Hölle, Sherlock“ meinte. Ihn in die Drogenhölle zu schicken und sich einem Serienkiller auszuliefern, ist natürlich eine drastische Maßnahme, um John Watson zu retten. Aber es ist eine tolle Möglichkeit, mit dem Original Canon zu spielen, Sherlock’s Drogensucht zu thematisieren – und auch die Wesenszüge von John Watson.
Viele Fans gucken die Serie vor allem wegen dieser beiden Figuren, ihrer Entwicklung und der Emotionen in ihrer Beziehung. Ganz egal, ob einen dabei die im Original verbriefte tiefe Freundschaft der beiden interessiert oder gar eine ebenfalls aus der Serie herauslesbare homoerotische Partnerschaft. Jedenfalls lässt Moffat seinen ehemals so gefühlsblinden Sherlock weiter menscheln. Für John bringt er sich an die Schwelle des Todes, und sein Gespräch mit Faith/Eurus zum Thema Suizid birgt eindrucksvolle Dringlichkeit und Wahrheit.
John Watson durchläuft innerhalb einer einzigen Folge etliche Stadien der Trauer: Depression, Wut, Akkzeptanz. Und bricht dabei mit den Wesenszügen der Originalfigur. Bei Arthur Conan Doyle bleibt er der loyale, zuverlässige Sidekick für Sherlock, ohne wirklich jemals die Contenance zu verlieren. Der BBC-Dr. Watson jedoch entpuppt sich als jemand, der nicht nur die Gefahr liebt, sondern auch zu emotionalen Gewaltausbrüchen fähig ist. Das ist für den ein oder anderen verstörend. Für mich jedoch ist es die logische Fortsetzung alles bisher Angedeuteten und macht diese ansonsten schon fast zu perfekte Figur durch Brüche viel interessanter. Erst recht, wenn Martin Freeman das so überzeugend darstellt und einige der furiosesten Szenen hinlegt, die ich in der gesamten Serie gesehen habe.
Und seien wir mal ehrlich: Auch wenn John deutlich zu weit geht, hat Sherlock diese Prügel nicht doch ein bisschen verdient? Nicht wegen Mary. Aber vielleicht wegen all dem, was er seinem besten Freund zuvor schon angetan hat. Ein vorgetäuschter Selbstmord vor dessen Augen. Nach zwei Jahren rotzfrech einfach wieder auftauchen. In der U-Bahn in „Der leere Sarg“ die bangen Minuten, in denen Sherlock John zum Spaß glauben lässt, dass sie beide gleich von einer Bombe zerfetzt werden. Und jetzt das hier. Da kann man schon mal wütend werden, finde ich.
Die Umarmung, auf die die Welt gewartet hat
Aufatmen: Sherlock und John versöhnen sich wieder (Copyright: BBC One)
Aber alles wird gut. Endlich, endlich bekommen wir die Umarmung, auf die die Welt gewartet hat. Nun ja. Die Johnlock-Fans haben zumindest darauf gewartet (und auf einen Kuss, aber das ist eine gaaanz andere Geschichte, und um die weiter zu thematisieren, kochen die Gemüter noch immer zu hoch – da lasse ich hier die Finger von). Doch auch für alle anderen ist es ein gleichzeitig schmerzvoller und herzerwärmender Anblick, als Sherlock Holmes einen haltlos weinenden John Watson in den Arm schließt, um ihn zu trösten. Die ganze vorangehende Szene ist ein Bewerbungszeugnis für den nächsten BAFTA. Vor allem Martin Freeman’s Mimik, der Blick in seinen Augen, die absolut überzeugende Verzweiflung sorgen für ein Wechselbad der Gefühle. Der Intensität dieser Szene kann man sich nicht entziehen. (Und es wird nicht besser, wenn man weiß, dass Martin Freeman und Amanda Abbington, die lange Jahre lieert waren und gemeinsame Kinder haben, sich im Laufe der Dreharbeiten zur Serie getrennt hatten). *schluck*
Badass Mrs. Hudson
Mrs Hudson lässt sich nicht alles bieten (Copyright: BBC One)
Schauspielveteranin Una Stubbs darf sich derweil in einer der umwerfendsten Szenen von Not-your-housekeeper-Mrs. Hudson austoben. Großartig, wie sie im Aston Martin mit Sherlock im Kofferraum auftaucht und John auf gewitzte Art und Weise dazu bringt, sich endlich zusammenzureißen und mitzumischen! Klar, man kann das für übertrieben halten. Aber auch hier gibt es schon genug Vorabanmerkungen, um zu glauben, dass „Mrs. H.“ es faustdick hinter den Ohren hat – und John und Sherlock als ihre „Jungs“ betrachtet, denen sie zum eigenen Schutz den Hintern hochbinden muss. So lustig, und so herzlich zugleich!
Ein echter Bösewicht
Culverton-Smith, der unheimliche Serienkiller (Copyright: BBC One)
Es tut gut, in „Der lügende Detektiv“ mal wieder einen richtig guten Bösewicht zu sehen. Natürlich fragen wir uns alle an dieser Stelle immer noch, was denn jetzt mit Moriarty ist. Um den sollte es doch eigentlich gehen. Aber es ist auch mal schön, dass es um jemand anderen geht, und der entspringt nicht nur dem Original Canon, sondern ist auch richtig schön fies und wird von Toby Jones mit Gänsehautfaktor verkörpert. Gruselig, dass dieser Serienkiller gar nicht so abwegig ist: Moffat und Gatiss haben ihn an den realen Killer H.H. Holmes und sein Todeshotel angelehnt. Schlagt das mal nach! Schaurig. Einige sehen sogar weiter gehende Parallelen zu einem gewissen amerikanischen Präsidenten und Businessmann, der sich aufgrund seines Geldes und seiner Machtposition auch einfach alles erlauben kann, was er will…
Der Ostwind bläst
Nach all den kleinen Andeutungen (guckt mal auf die Tapete bei der „Therapeutin“: selbst darauf bläst der Wind) ist es jetzt amtlich: Es gibt ein drittes Holmes-Geschwisterkind. Das hat mich nicht überrascht, aber dass Eurus auf diese Art auftaucht und eine Schwester ist statt eines Bruders – wow! Die BBC hat bei den Dreharbeiten wirklich eine Meisterleistung in Sachen Geheimhaltung vollbracht, denn das wussten selbst eingefleischte Fans nicht. Kudos!
Natürlich. All dieser Hokuspokus mit Eurus, und jetzt dreht sich die Serie fast nur noch um ihre eigenen Figuren. Da kommt langsam das Problem der Glaubwürdigkeit auf, und die ursprünglichen Abenteuergeschichten mit wechselnden Bösewichten geraten in den Hintergrund. Aber, hallo, ist das genial gemacht! Und am Schluss dann noch der Schuss auf John Watson. Wer fiebert jetzt nicht der nächsten Folge entgegen?!
Fazit:
Für mich die beste Folge der Staffel: Ein Serienkiller-Fall mit tollem Bösewicht. Das Detektivduo in emotionaler Auflösung. Rätsel über Rätsel und eine verzerrte Wahrnehmung, die uns schwindelig macht – bis am Ende ein Monstertwist und ein Cliffhänger dafür sorgen, dass wir atemlos und mit aufgerissenen Augen vom Fernsehsessel rutschen, während wir uns noch die Tränen der Rührung von der Wange wischen.
Man kann auf hohem Niveau an diesem und jenem rumjammern, aber wenn ihr mich fragt: Besser wird es nicht. Ich bin hin und weg.
Was ist mit euch? Wie hat euch die Folge gefallen? Habt ihr gemerkt, dass die Frau im Bus, die Therapeutin und die falsche Faith ein und dieselbe Person waren? Ist euch aufgefallen, dass wir es mit zwei verschiedenen Schauspielerinnen zu tun hatten? Was glaubt ihr, wie es weitergeht? Was ist mit John Watson?!
Entschuldigt. Auch nach dem fünften Gucken muss ich kurz gehen und in eine Papiertüte atmen. Kommentiert schon mal. Ich bin gleich wieder zurück…