Rezension: ‚Die Flutwelle‘ von Mikael Niemi

die flutwelleTitel: ‚Die Flutwelle‘

Originaltitel: ‚Fallvatten‘

Autor: Mikael Niemi

Sprache: Deutsch

Originalsprache: Schwedisch

Medium: gebundene Ausgabe

Verlag: btb

erschienen: 29. April 2014

Länge: 320 Seiten

Beschreibung (btb Verlag):

Wie würdest du dich verhalten im Angesicht einer Katastrophe?

Hoch oben im Norden Schwedens regnet es schon fast den ganzen Herbst. Und dann zeigen sich im obersten Staudamm des Lule älv tatsächlich Risse. Keiner kann sich vorstellen, dass er brechen könnte. Doch dann geschieht genau das – die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Das Wasser kommt in gigantischen Massen. Ein Tsunami im eigenen Land. Inmitten des Infernos eine Gruppe von Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die nun aufeinander angewiesen sind, wollen sie überleben: Der Hubschrauberpilot, der kurz vor einem Selbstmord stand. Die Künstlerin, die mit ihrer Malgruppe in den Wäldern umherstreift. Die Schwangere, die an einen Schornstein geklammert um ihr Überleben kämpft und von einem anderen Schiffbrüchigen ins Boot gezerrt wird. Zwei Ingenierinnen, die schon lange vor der Gefahr gewarnt haben. Sie alle stehen vor einer gewaltigen Herausforderung: Sie kämpfen nicht nur ums Überleben, sondern auch um ihre eigene Menschlichkeit …

Zum Buch:

Ich kann es kurz machen: Die Flutwelle ist merkwürdig. Spannend. Und abstoßend.

Blei Sommerhitze und aufziehendem Gewitter lese ich diesen schwedischen Katastrophenthriller im Laufe eines Tages runter. Die sehr kurzen Kapitel (ca. 3 bis 8 Seiten) jeweils aus der wechselnden Sicht der fast zwei Handvoll handelnder Personen sowie die daraus resultierenden dauernden cliffhanger machen es schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Zumal Niemi ohne großes Fackeln in die Katastrophe einsteigt: Der eine Domino-Flutwelle auslösende Damm bricht gleich auf den ersten paar Seiten. Warum genau, das erfahren wir nicht. Interessiert aber auch keinen, denn darum geht es nicht.

Es geht um den Überlebenskampf, den jede der Hauptfiguren ganz für sich auf ihre Art und Weise führt, durch deren Augen gesehen. Das ist ein Konzept, das Spannung garantiert. Zumal Niemi schonungslos und ungeschönt schreibt. Knochen brechen, bleiche Körper trudeln in den Wassermassen und Menschen ersaufen wie die Hunde, grausame Bilder im Kopf und helle Panik im Hirn. Niemis Erzählstil hat etwas von einer Kamera mit Polfilter. Gestochen scharf, mit fast unerträglichem Kontrast und ohne Weichzeichner beschreibt er Szenen, an die einen leises Grauen fesselt. Es ist gräßlich, aber man kann nicht wegsehen.

Allerdings hat Niemis Stil auch seine Schattenseiten. Zum einen wirft er in den unpassendsten Momenten mit absurden Metaphern um sich und lässt seine Figuren auf Gedankengänge abdriften, die mit Menschlichkeit und Normalmaß nichts mehr zu tun haben. Klar. Es sind Extremsituationen. Und wenn es um das eigene Leben geht, um Todesangst, dann sind auch die Reaktionen, Emotionen und Gedanken extrem. Aber was und wie Niemi da schreibt, wirkt teilweise schon wirklich krank.

Da haben wir zum Beispiel Barney, eine durch und durch abstoßende Figur, der mehr damit beschäftigt ist, eine Frau zu vergewaltigen und eine weitere zu quälen als sich selbst in Sicherheit zu bringen. Der Leser sitzt durch die Ich-Erzählung in Barney’s Kopf, und das ist schon heftig.

Eine solche Figur einzubringen und damit die Grenzen des Lesers zu kitzeln, verstehe ich ja noch. Aber bei einer anderen Szene und einer anderen Figur hakt es bei mir fast aus (hier muss ich ein bisschen spoilern, ist mir aber auch egal, ihr solltet gewarnt sein): Eine junge Frau, eine Künstlerin, zieht einen Mann halbtot aus dem Wasser. Sie kennt ihn, kann ihn eigentlich nicht leiden und hat ihm gerade zwecks Rettung das halbe Bein abgesäbelt. Als er, unterkühlt und fast ausgeblutet, nicht mehr atmet, betreibt sie Wiederbelebung und versucht ihn zu wärmen. Der Halbtote bekommt im bewusstlosen Zustand eine Erektion, und seine Retterin hat nichts Besseres zu tun als ihn erst zu befummeln und dann zu besteigen – um nach dem Orgasmus festzustellen, dass er inzwischen tot ist.

Ernsthaft, Herr Niemi? Ernsthaft?!

Diese Szene ist übrigens alles andere als erotisch geschrieben. Ein blutiger Stumpf. Ein krampfender, bläulicher Körper. Ein verschrumpeltes Glied. Das ist grausig, wirkt abstoßend und verstörend. Soll es wohl auch. Der Autor will das Extreme darstellen, die Rückkehr zu niederen Instinkten. Nehme ich an.

Mir ist das aber zu viel. Und wäre diese Szene nicht relativ kurz vor dem Ende des Buches aufgetaucht, hätte ich wohl abgebrochen. Es ist der Sorge um die beiden einzigen halbwegs sympathischen Figuren zu verdanken (Lovisa und ihr Vater), dass ich bis zum Schluss lese. Und es bleibt spannend, das gebe ich zu. Wer am Ende überlebt, klärt sich erst auf den letzten Seiten, und auch da zieht Niemi seine harte Linie durch: die Wassermassen fordern kompromisslos Opfer, und das hat bei keinem etwas mit friedvoll oder sinnhaft zu tun.

Warum auf dem Klappentext von Die Flutwelle etwas von ‚Demut‘ und ‚Mitgefühl‘ bezüglich Niemi’s Schreibstil steht, ist mir schleierhaft. Alles, was ich sehe, ist kalt, nackt und grausig. Überhöhter Realismus, der mich trotz aller Spannung verstört.

Fazit:

Wer auf Extreme steht, für den ist dieser hart und teils ordinär geschriebene Katastrophenthriller vielleicht etwas. Spannung ist reichlich vorhanden. Kurze Kapitel und wechselnde Blickwinkel sorgen für gekonnte Rasanz. Da sammelt Niemi Punkte. Seine Figuren aber reichen von nur ansatzweise sympathisch bis abstoßend. Sein Herz kann man an keine von ihnen wirklich hängen.

Der Schreibstil ist schonungslos, geradezu übertrieben realistisch, ab und an unterbrochen von merkwürdigen, abgedrehten Metaphern und Gedankenflüssen der verschiedenen Ich-Erzähler. Ein paar verstörende Szenen fordern heraus, verursachen Ekel. Schön ist hier gar nichts, und das will Niemi wohl so, aber man muss als Leser schon selber entscheiden, ob das noch (Schreib)kunst ist oder einfach schlechter Stil.

Bei mir hinterlässt Die Flutwelle (aller Spannung zum Trotz) leider einen ekligen Nachgeschmack.

Bewertung: 4 von 10 Punkten

 

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