Titel: ‚The Ocean at the End of the Lane‘
(bisher nicht auf Deutsch erschienen)
Autor: Neil Gaiman
Sprache: Englisch
Format: Hörbuch
Sprecher: Neil Gaiman
Anbieter: Harper Audio
erschienen: Juni 2013
Länge: 5 Std 48 min (ungekürzt)
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„Grown-ups and monsters aren’t scared of things.“
„Oh, monsters are scared“, said Lettie. „That’s why they’re monsters. And as for grown-ups-“
She stopped talking, rubbed her freckled nose with a finger. Then: „I’m going to tell you something important. Grown-ups don’t look like grown-ups on the inside either. Outside, they’re big and thoughtless and they always know what they’re doing. Inside, they look just like they always have, like they did when they were your age. The truth is – there AREN’T any grown-ups, not one, in the whole wide world.“
— Neil Gaiman, The Ocean at the End of the Lane
Beschreibung:
Für eine Beerdigung keht der namenlose Erzähler mittleren Alters zurück in sein Elternhaus. Dorthin, wo er als Kind aufwuchs. Etwas zieht ihn zu der Farm ganz am Ende der Straße hin. Dort wohnte damals die kecke Lettie Hempstock mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter.
Verschüttete Erinnerungen kommen wieder an die Oberfläche. Erinnerungen an einen Toten und an die dunklen Ereignisse, als der Erzähler sieben Jahre alt war. An das Böse, das aus einer anderen Welt in diese fand, und vor dem ihn selbst seine Eltern nicht beschützen konnten. Nur eine konnte das: die starke, seltsame Lettie.
Zum Hörbuch:
Der 1960 geborene Brite Neil Gaiman lässt sich nur in eine Schublade pressen: Er ist irgendwie anders. Als Comic-Schreiber hat er begonnen, und dazu kommen inzwischen nicht nur preisgekrönte Romane, sondern auch Graphic Novels, Essays, Kurzgeschichten und Drehbücher. Seine Geschichten sind meist Grenzgänger zwischen Realität und Phantasie, oft in Form von parallelen Welten, die sich berühren.
So war das im GRAVEYARD BOOK, meiner ersten Begegnung mit Neil Gaiman. Und so ist das auch mit THE OCEAN AT THE END OF THE LANE. In der Straße, wo sich die gesamte Geschichte ereignet, wohnen ganz reale Menschen: unser namenloser Erzähler mit seinen Eltern und seiner Schwester. Es geschehen ganz reale Dinge: Das Geld ist in finanziell schwierigen Zeiten knapp, Untermieter gehen deswegen im Haus ein und aus, und hinter der Farm ganz am Ende der Straße gibt es einen ganz realen Ententeich, den Lettie immer ihren ‚Ozean‘ nennt.
Aber dann findet man in der Straße eine Leiche, Alpträume plagen den kleinen Jungen, und er landet auf Lettie’s Farm. In ihrer Küche sitzend, bei frischer Kuhmilch und einem Stück Honigwabe, erzählt Lettie’s Großmutter ganz selbstverständlich, dass sie schon lebte, als der Mond entstand. Das Erstaunliche: Man glaubt ihr sofort und findet das kein bisschen seltsam! Ohne den geringsten Zweifel und ohne damit hinter dem Berg zu halten, tritt neben dem Bösen das Magische, Übernatürliche, Alte und Gute in diese Geschichte. Ach was. Es tritt nicht ein – es ist einfach schon immer dagewesen.
Der Siebenjährige erfährt, dass es das Böse wirklich gibt. Und dass die Erwachsenen – sogar seine eigenen Eltern! – es nicht erkennen können und auch nicht in der Lage sind, ihn davor zu beschützen. Viel, viel Gänsehaut schleicht sich auf die Haut des Hörers. Alles kommt wieder zurück aus der eigenen Kindheit, aus er überbordenden Vorstellung und den Alpträumen. Aber hier ist es real!
Gaiman’s Geschichte ist aus der Sicht eines erwachsen gewordenen Kindes geschrieben, aber sie ist nicht FÜR Kinder. Zu beängstigend und dunkel ist das, was er da auffährt. Zu dicht geht das an die eigenen Gespenster der Kindheit heran.
Nicht, dass man sich dauernd hinter einem Kissen verstecken möchte, nein. In Gaiman’s märchenartiger Erzählung liegt neben viel Dunkelheit auch viel Nostalgie. Rituale, magische Worte, Bücher (!), Freundschaft, wie sie nur Kinder kennen – es keimt auch viel Wehmut auf. Nicht nur die Angst, sondern auch alles, was dagegen hilft, spielen mit. Voller Phantasie und auch voller Humor steckt diese Zeitreise in die Erinnerung. Nur wird das Sichere und Geborgene immer durchzogen von Unheil, gegen das es kein wirkliches Gegenmittel zu geben scheint.
Manchmal scheint es mit Gaiman etwas durchzugehen. Manchmal wird es so phantastisch, dass es nicht mehr wirklich erschreckend ist. Tatsächlich ist eine der beängstigendsten Szenen des Hörbuchs eine sehr realistische, eiskalte Eskalation erwachsener Autorität. So beängstigend, dass man sich fragt, was passieren würde, würde Gaiman einen komplett in der realen Welt angesiedelten Thriller schreiben – man hätte danach wohl weiße Haare.
Aber es bleibt dabei: düstere, mysthische Realo-Märchen schreibt Gaiman wie niemand sonst zur Zeit. Beim Hören fühle ich mich an meinen (leider kürzlich verstorbenen) Lieblingsschriftsteller erinnert: Ray Bradbury. Wie Bradbury ist Gaiman jemand, der kindliche Ängste und dunkle Phantasien nehmen und sie Erwachsenen kalt den Rücken hoch kriechen lassen kann. Wie Bradbury gibt es eine natürliche Koexistenz verschiedener Welten. Beide sind gesegnet mit einem spielerischer Fantasie, die trotzdem weise ist.
Gaiman beendet seine Geschichte mit der Botschaft, dass man das Böse in seine Schranken weisen kann, aber einen Preis dafür bezahlt. Und lässt uns mit dem Gefühl zurück, dass wir tief in uns drin immer noch sieben Jahre alt sind. Und uns – wie der Erzähler – an viel mehr und viel Erschreckenderes erinnern könnten, würde uns nicht jemand davor beschützen.
Zum Sprecher:
Es ist selten eine gute Idee, wenn Autoren ihr Werk selbst als Hörbuch einlesen. Die große Ausnahme: Neil Gaiman! Sein dunkles Timbre und die langsame, dennoch eindringliche Vortragsart mit wunderbar zu verstehender britischer Aussprache machen ihn schon rein technisch zu einem Hörvergnügen.
Dazu kommt ein Talent für verschiedene Stimmfarben, für Akkzente und ungeheuer sympathisch vorgelesene Dialoge. Neil Gaiman hat einen einzigartigen Stil, in dem sich Nachdenklichkeit und Bedeutungsschwere mit Humor und Charme paaren. Dunkelheit und Licht liegen dicht nebeneinander, wenn er spricht – eine Dichotomie, die ganz perfekt zu seinen Geschichten passt.
Neil Gaiman weiß, wie er seinen Worten mit seiner Stimme Ausdruck und Nachhall verleiht. Das kann man auch sehr gut hören, wenn man sich Videos einer seiner vielen Reden anschaut, zu denen er gerne eingeladen wird. Der Mann benutzt seine Stimme und Sprechweise als Instrument. Und das gilt ebenso und umso mehr, wenn er seine Bücher selbst vorträgt.
Ein absoluter Genuß.
Fazit:
Ein dunkles Märchen über die Kindheit, geschrieben für Erwachsene. Eine Reise in verborgene Erinnerungen. Gaiman nimmt uns an die Hand und zeigt uns, wie das Böse in die Welt kommt, und was man tun kann, damit es wieder verschwindet. Dabei helfen urmütterliche Wesen und eine unerschütterliche 11jährige, die schon sehr, sehr lange 11 ist.
Was hilft gegen die Dunkelheit? Wie beschützt man sich als Kind, wenn selbst die Erwachsenen es nicht können? Wie begegnet man der Angst?
Ein ebenso düsterer wie humorvoller kleiner Roman voller Mystik und phantastischer Ideen. Am Ende ist man versucht, die eigenen Erinnerungslücken in Frage zu stellen und sieht Kindermädchen und Ententeiche in einem völlig neuen Licht.
Wundervoll!
Bewertung:
Hörbuch: 9/10
Sprecher: 10/10
Neil Gaiman ist unglaublich aktiv im Internet und hält über Social Media regen Kontakt zu seinen Fans. Seine Webseite ist http://www.neilgaiman.com/, und er twittert fleißig unter @neilhimself. Natürlich findet ihr ihn auch auf Facebook.
Zur Zeit befindet er sich auf einer Lese- und Signiertournee für THE OCEAN OF THE END OF THE LANE. Er hat angekündigt, dass es seine letzte Lesetournee überhaupt sein wird.
In diesem Video von einer Live-Lesung trägt Neil Gaiman die Stelle vor, von der ich oben gesprochen habe: Die alte Mrs. Hempstock erinnert sich an die Entstehung des Mondes. Unglaublich charmant und witzig! Eine meiner Lieblingsstellen.
Neil Gaiman über seinen Roman THE OCEAN AT THE END OF THE LANE:
3 Gedanken zu “Rezension: ‚The Ocean at the End of the Lane‘ von Neil Gaiman”