Rezension: ‚Tinkers‘ von Paul Harding

Tinkers von Paul HardingTitel: Tinkers (gleichlautend mit dem englischen Originaltitel)
Autor: Paul Harding
Format: gebundenes Buch
Sprache: Deutsch (Originalsprache: Amerikanisch)
Verlag: Luchterhand
erschienen: 29.08.2011
Länge: 192 Seiten

‚Tinkers‘ ist direkt beim Luchterhand Verlag erhältlich oder natürlich beim Buchhändler eures Vertrauens.

Klappentext:

Der Uhrmacher George Washington Crosby liegt, umgeben von seiner Familie, in seinem Haus in dem Städtchen Enon im Sterben. Paul Hardings Roman begleitet ihn durch seine letzten Tage, reist aber auch zurück durch die Zeit und spürt den Erinnerungen nach, beschwört die Landschaft von Maine herauf, Georges ärmliche Kindheit und das Leben seines Vaters Howard, der noch als »Tinker«, als Kesselflicker und fahrender Händler, mit dem Maultierkarren über Land zog.

Zum Buch:

TINKERS erschien 2009 (auf Englisch) als Debüt-Roman des 1967 in Massachusetts geborenen Autors und Dozenten Paul Harding. Der kurze Roman über den sterbenden Uhrmacher und Sohn eines Kesselflickers (‚Tinker‘) in Maine schlug völlig unerwartet ein wie eine literarische Bombe – und wurde gleich mal mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

In meine Hände fällt das kleine, aber leserisch schwergewichtige Buch als unverlangte Leihgabe eines verwandten Buchmenschen und begleitet mich durch den Jahreswechsel. Dass im August 2015 mit VERLUST gerade erst die Fortsetzung von TINKERS erschienen ist, entdecke ich erst nach Beendigung der Lektüre.

Knochige Poesie, sterbendes Delirium

Schnell wird klar, dass TINKERS trotz des geringen Seitenumfangs kein schnell zu überfliegender Lesehappen ist. Die Sprache ist hoch literarisch. Die Erzählperspektive wechselt – manchmal mitten im Absatz – von der dritten in die erste Person. Das gleiche gilt für die zeitlichen Ebenen. Erinnerungen und Halluzinationen des sterbenden George wechseln sich ab mit Auszügen aus Uhrmacher-Handbüchern und fiebrig-abstrakten ‚Definitionen‘, verschmelzen wiederum mit Erinnerungen von George’s Vater Howard.

Die Sprache ist, wie man das bei einem Pulitzer-Preisträger erwarten kann, etwas Besonderes. Nicht blumig, aber voller Bilder, die sich wie kahle Birkenstämme und blanke Knochen mit der stets ausgebleichten, kalten Landschaft von Maine vermengen. Der Wind scheint unbarmherzig schneidend durch die Sätze zu wehen. Harding’s Schreibe ist schön auf verstörende Art. Beim Lesen fröstelt es einen immer ein bisschen.

Leichtes Ächzen unter schwerer Bedeutung

Herausfordernd sind die mit Bedeutung und Symbolik vollgepackten Sätze. Schon allein die Berufe (und Berufungen) der Hauptfiguren bergen gewichtige Assoziationen: Uhrmacher George, sterbend, ist dahin siechendes Sinnbild für die Zeit, den Lauf des Lebens. Sein Vater, der tingelnde Tinker mit dem Verkaufkarren voller nützlichen Kleinkrams von Seife bis Schuhbürsten, scheint in den vielen Schubladen des Karrens die Ding gewordenen Essentialen des Daseins mit sich zu schleppen. Und dann noch George’s Großvater, der im Wahn verblassende Pastor mit seinen verworrenen Predigten.

Alles – Worte, Sätze, Struktur, Perspektive – ist mit Bedeutung aufgeladen. Teils bis zur Halskrause. Teils zu sehr, so dass der Roman anmutet wie für ein literaturwissenschaftliches Hauptseminar zum semesterlangen Sezieren verfasst. Das hat dann etwas sehr Gewolltes. Ein zu viel des Guten. Das ist aber ein häufiges Symptom literarischer Preisträger. Mir teils zu aufgesetzt. Für andere dagegen Kriterium eines echten Meisterwerks.

Herzlos?

Wärme gibt es nicht in der Sprache. Auch nicht in den Figuren. Nur in wenigen Minuten kann ich mein Herz für George öffnen, noch eher sogar für dessen von Epilepsie heimgesuchten Vater. Das mag am kargen Umgang der Figuren miteinander liegen, an der Sprache. Es gibt aber einfach wenig Grund, jemanden in dieser Geschichte zu mögen, und das scheint beabsichtigt. Alles wirkt kühl, bedrohlich, moribund.

Perspektivisch ungereimt

Befremdlich und im Erzählwerk unlogisch: Der Wechsel der Ich-Perspektive von George zu Howard. Insgesamt lässt sich das brüchige Erzähl-Konglomerat durch die Perspektive des dahin scheidenden George erklären. Wo die Wahrnehmung nur noch sterbend flackert, kann man nichts Lineares erwarten, sondern eben nur ein durcheinander wirbelndes Mosaik mit kurzen lichten Momenten. Warum George allerdings über weite Strecken aus der Erinnerung seines Vaters erzählt – teils Erlebnisse und zeitliche Abschnitte, die er gar nicht kennen kann – das lässt sich nicht erklären. Mit künstlerischer Freiheit vielleicht, aber im Aufsatz hätte das zu meiner Zeit dicke rote Randbemerkungen gegeben.

Fazit:

Vom Seitenmfang her ein Leichtgewicht, ist TINKERS sprachlich und strukturell ein literarischer Brocken. Harding schreibt fein, abstrakt und gleißend realistisch zugleich. Er malt mit Worten hochkarätige Bilder, die nicht hübsch sind, nicht warm, aber voller Sprachgewalt. Beim Lesen drängt sich das Gefühl auf, ein menschliches Skelett anzustarren: Was für ein faszinierendes Gebilde, was für ein unglaubliches Kunstwerk! Aber wie sehr möchte man auch wegsehen. Schrecklich faszinierend. Das ist Paul Harding’s Erstling.

Perspektivisch kommt es zu ernsthaften Ungereimtheiten. Literarisch wirkt das alles manchmal zu forciert. Die Charaktere bleiben ohne Anbindung ans Herz. Aber herrjeh – schreiben kann dieser Mann, und man versteht rasch, woher der Pulitzer-Preis kam.

Bewertung: 7 von 10 Punkten

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